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»Strafverfolgung schadet mehr als sie nutzt«

Im Wortlaut von Frank Tempel,

 

Der ehemalige Kriminalbeamte Frank Tempel fordert als drogenpolitischer Sprecher der Linkspartei die Legalisierung aller Drogen. Im Interview erklärt er, warum das Verbot der Gesellschaft schadet und Strafverfolgung die kriminelle Szene nur stärker macht.

 

The European: Herr Tempel, tut sich was in der Drogenpolitik?

Frank Tempel: Es hat sich in den letzten 24 Monaten viel getan und in den letzten 12 Monaten noch mal mehr. Noch vor Kurzem wurde Drogenpolitik medial kaum diskutiert. Das Thema musste überhaupt erst auf die Tagesordnung gebracht werden.

Inzwischen wird deutlich mehr berichtet.

Die Medien haben die Politik um Meilen überholt. Quer durch Fernsehen, Print und Online finden sich inzwischen richtig gute, sachliche Fachbeiträge. Dagegen isoliert sich die konservative Politik, die stur auf Strafverfolgung setzt, immer mehr.

Woran machen Sie das fest?

Mehr als 100 deutsche Strafrechtsprofessoren haben in einer Resolution an den Bundestag ein Umdenken von der Politik gefordert und in einer von Grünen und Linken beantragten Anhörung im Gesundheitsausschuss haben acht von zehn Experten für eine Evaluierung der Drogenpolitik plädiert – selbst Experten, die CDU/CSU und SPD eingeladen haben. Dazu kommt, dass immer mehr gesellschaftliche Organisationen, bis hin zu den Polizeigewerkschaften, mit klaren Aussagen in die Öffentlichkeit treten. Auch unter den Gesundheitspolitikern der SPD findet Bewegung statt.

Es ist momentan tatsächlich gar nicht so leicht, die Gegner einer alternativen Drogenpolitik dazu zu bewegen, sich zu äußern.

Ich habe seit geraumer Zeit das Problem, dass von der Union keiner mehr mit mir bei einer Podiumsdiskussion oder einer Talkshow in die Bütt geht.

Ist das nicht merkwürdig?

Das ist nicht merkwürdig. Die merken langsam, dass sie falsch liegen. Aber wer sagt das schon gerne öffentlich? Die verweigern das Thema einfach.

Also tut sich doch nicht so viel.

Die Tür ist schon weit offen, aber wir sind noch nicht über die Schwelle gegangen. Selbst die Drogenbeauftragte signalisiert inzwischen, dass es 2016 Verbesserungen bei der medizinischen Verwendung von Cannabis geben soll. Wir wissen zwar noch nicht genau, was da kommt, aber das sind positive Signale. Ich bin auch optimistisch, dass noch in dieser Legislatur etwas beim Thema Substitution passiert und endlich rechtliche Verbesserungen kommen. Nur die großen Schritte sind unter der Großen Koalition wohl nicht machbar.

Was halten Sie von den beiden zentralen Argumenten für das Drogenverbot: Gesundheitsschutz und öffentliche Sicherheit?

Gerade in diesen beiden Bereichen zeigt sich, dass Strafverfolgung mehr Schaden anrichtet, als dass sie nutzt. Die zentrale Absicht, Angebot und Verbreitung von Drogen zu reduzieren, wird nicht erreicht. Und auf die Gesundheit der Menschen hat das Verbot sehr negative Auswirkungen. Wir sprechen von „schädlichen Nebenwirkungen der Strafverfolgung“. Mit Streckmitteln verunreinigt sind Drogen eben nur, wenn es keinen Verbraucherschutz gibt. Das trifft auch auf unklare Dosierungen zu. Der Staat hat über teilweise sehr gefährliche Substanzen komplett seine Hoheit aufgegeben. Deshalb bedient der Schwarzmarkt die Nachfrage, was für den Konsumenten extrem risikoreich ist.

Wären die Drogen legal, würde der Konsum stark zunehmen. Zumindest wird so häufig argumentiert.

Das Argument der Union, man wolle neben Alkohol und Tabak nicht noch weitere Drogen in der Gesellschaft haben und sei deshalb gegen eine Liberalisierung, ist lächerlich. Wir haben alleine 2,5 Millionen Cannabis-Konsumenten im Land. Da zu fragen, ob wir die Droge „haben“ wollen oder nicht, ist völlig kompetenzfrei. In Holland, wo Cannabis toleriert wird, haben prozentual genauso viele Menschen Kontakt damit wie in Deutschland, wo sie verboten ist. Auch das Beispiel Portugal zeigt, dass der Konsum nach einer Liberalisierung nicht zunimmt. Die wichtige Frage ist, wie wir mit den Substanzen umgehen.

Wie?

Ein Mediziner hat mir einmal gesagt: „Umso gefährlicher eine Droge ist, desto gefährlicher sind die Nebenwirkungen der Strafverfolgung.“

Erklären Sie das bitte.

Woran stirbt ein Heroin-Konsument? Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nach einer Zwangsabstinenz, an Streckmitteln oder einer Überdosierung. Nebenerkrankungen wie Aids, Hepatitis und andere Infektionen spielen auch eine Rolle. Das sind alles vermeidbare Folgen von Ausgrenzung, Kriminalisierung und Illegalisierung.

Das saubere Heroin, das Bayer um 1900 hergestellt hat, kann man eine ganze Weile unbeschadet nehmen.

Das ist richtig, das sieht man in der Substitution, in der mit unter anderem Diamorphin im Prinzip reines Heroin verwendet wird. Die Lebensqualität des Betroffenen erhöht sich dann plötzlich deutlich. Er bleibt immer noch ein Suchtkranker, aber er kann wieder an Lebens- und Arbeitsprozessen teilnehmen. Ich habe das als Kriminalbeamter selbst erlebt.

Was genau?

Wie die Menschen sich verändern, wenn sie ein, zwei Jahre raus sind aus der Illegalität. Wenn sie nicht mehr auf Konsum nach Kassenlage angewiesen sind, durch einen Arzt kontrolliert und runterdosiert werden können. Wenn sie frei von den Nebenwirkungen der Streckmittel sind. Man kann dann sehen, was sich mit einem legalen Produkt bei einem kranken Menschen erreichen lässt.

Es ist interessant, dass der Süchtige offiziell als Kranker akzeptiert wird, auch von den Krankenkassen, aber aufgrund der Prohibition in ein illegales Umfeld gedrängt wird.

Ich habe mehrfach erlebt, dass Menschen sich vom kriminellen Umfeld lösen können, wenn sie in ein Substitutionsprogramm kommen. Wer an eine kriminelle Szene gebunden ist, um sein Suchtmittel zu bekommen, wird geradezu rekrutiert, zum Beispiel für Serieneinbrüche oder andere Bandenkriminalität, um die erhaltenen Drogen „abzuarbeiten“. Diese Verknüpfung besteht nur, weil wir den Markt komplett Kriminellen überlassen haben. Wir liefern die Konsumenten dieser Szene aus.

Der Staat schafft im Grunde durch seine Politik die Voraussetzungen, die ihm dann wieder als Argument für die Begründung derselben dienen.

Wer einmal einen Joint raucht, ist in Unionskreisen im Prinzip ein Schädling der Gesellschaft. Jemand auf dem absteigenden Ast, auf dem Weg zum Kriminellen. Ein paar Weißbiere sind dagegen gesellschaftsfähig. Wobei es rein gesundheitspolitisch betrachtet mindestens ein gleichschädliches Verhalten ist.

Müssen Drogen nicht verboten sein, um die Kinder zu beschützen?

Als meine Partei beschlossen hat, langfristig alle Drogen zu legalisieren, wurde ich in meiner Familie gefragt, ob wir wirklich wollen, dass das Zeug überall zu haben ist. Das lauteste Gelächter kam da von meinem ältesten Sohn, Gymnasium, elfte Klasse. Jeder wüsste, wie man an Drogen rankommt und wen man ansprechen müsste, wenn man wollte. Und er hat recht: Die Verfügbarkeit ist gerade für junge Menschen in unserem Land sehr hoch. Holland mit seinen Coffee Shops liefert zudem statistische Daten, die zeigen, dass die Präferenz der Jugendlichen zu Cannabis dort niedriger ist als in Deutschland, obwohl man im Zweifel nur einen älteren Freund braucht, um etwas legal zu kaufen. Selbst dieser niedrigschwellige Jugendschutz funktioniert also besser, als unser Schwarzmarktmodell. Jugendschutz ist nur möglich, wenn es einen legalen Zugriff auf die Produkte gibt.

Klingt logisch.

Ist es tatsächlich auch. Ich habe mich von dieser Logik selbst überzeugen lassen. Als ich vor einigen Jahren an das Thema rangegangen bin, musste ich meine Einstellungen und Vorkenntnisse ablegen, auch die aus der Polizeiarbeit. Wenn man alle Pros und Contras der aktuellen Drogenpolitik abwägt, kommt man zu einem eindeutigen Schluss. Deshalb widerspricht auch die Fachwelt fast geschlossen der herrschenden Politik.

Wenn in Medienberichten Kriminalbeamte oder Staatsanwälte auftreten, bekommt man den Eindruck, dass diese den Kampf gegen Drogen als einen gegen das Böse sehen und ihn gerne noch intensivieren würden. Da werden dann voller Stolz die Mengen beschlagnahmten Rauschgifts präsentiert …

Das liegt daran, dass Ursache und Wirkung vertauscht werden. Nehmen wir Crystal Meth, das Paradebeispiel dafür, was durch eine Kriminalisierung von Drogen passiert: Aus dem Pervitin von einst ist eine wesentlich stärkere Droge geworden, die durch die Herstellungsbedingungen häufig stark verunreinigt ist. Das Produkt bedient aber einen Zeitgeist, es gibt einen Bedarf für seine leistungssteigernde Wirkung, die mit legalen Mitteln nicht erreicht werden kann. Trotz Verbot breitet sich die Droge also immer weiter aus. Der Versuch, vor allem an der tschechischen Grenze, mit viel polizeilichem Druck die Einfuhr zu verhindern, führt zum genauen Gegenteil. Denn wenn mit einem Produkt so viel Geld zu verdienen ist, lassen sich die Anbieter nicht von verstärkten Kontrollen abhalten. Sie holen vielmehr die Drogenküchen ins Land, die vorher in Tschechien standen, und professionalisieren ihre kriminellen Strukturen.

Was passiert genau?

An der tschechischen Grenze findet bislang ein „Ameisenhandel“ statt. Viele Konsumenten gehen regelmäßig über die Grenze, um sich mit kleinen Mengen zu versorgen. Wenn das polizeilich unterbunden wird, entstehen neue, organisiertere Strukturen, um die Droge zu transportieren. Wir verdrängen die Laien aus dem Markt und bereiten der organisierten Kriminalität den Weg, um ihn komplett zu übernehmen. Der polizeiliche Druck macht die Szene also nur gefährlicher.

Genau das ist auch an der Grenze von Mexiko und den USA passiert. Seit die Kontrollen immer weiter intensiviert wurden und der Zaun gebaut wurde, hat sich der Drogenhandel auf wenige Kartelle konzentriert, die seither enorme Profite machen, extrem mächtig und brutal sind.

Es ist das gleiche Prinzip. Durch verstärkten polizeilichen Druck werden Laien zu Gunsten von Profis verdrängt. Wir rüsten die Kartelle indirekt auf.

Besondere Aufmerksamkeit erregt in Deutschland der Görlitzer Park in Berlin. Auch dort soll der polizeiliche Druck weiter verstärkt werden, um die sehr offen agierende Drogenszene anzugreifen. Was halten Sie davon?

An Stellen wie dem Görlitzer Park sieht man, dass Drogen deshalb gehandelt werden, weil der Bedarf da ist. Holland hat auf sein Cannabis-Problem einst mit Coffee Shops reagiert, Portugal auf sein Heroin-Problem mit einer Liberalisierung der Drogenpolitik und der Entkriminalisierung von Konsumenten. Ein Glück, gibt es auch bei uns viele Stimmen, die in die gleiche Richtung argumentieren. Sie sind international in bester Gesellschaft: Leute wie Xavier Solana oder Ban Ki-moon fordern genauso, illegale Milieus durch legale Strukturen zu ersetzen.

Der Berliner Senat sieht das anders und will den Görlitzer Park mit der Polizei aufräumen.

Eine Nulltoleranz-Grenze in einem einzelnen Bezirk einer Stadt! Solche Pläne sind grober Unfug. Das einzige Resultat wird eine Verdrängung sein. Der konservative Ansatz ist: „Was wir nicht sehen, ist nicht da.“ Die Drogenkriminalität wird sich durch die Maßnahmen des Senats nicht reduzieren lassen, höchstens weniger sichtbar werden.

Ein Argument ist oft, dass durch die Toleranzbereiche, die für kleinere Mengen verschiedener Drogen gelten, zumindest der Konsum bereits differenziert betrachtet werde und das an Liberalität genug sei.

In einigen Bundesländern wie Berlin mag das stimmen. In Thüringen hatte ich als Polizeibeamter allerdings den Auftrag, selbst bei Verpackungen mit Restanhaftung eine Strafanzeige zu schreiben. Und in Bayern ist die Anwendung einer geringen Menge schon die Ausnahme geworden, da geht so gut wie jeder Fall vor Gericht. Wir haben in Berlin oder München völlig unterschiedliche Rechtsanwendungen, obwohl es sich um ein und dasselbe Bundesgesetz handelt. Dabei ist die Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts, eine einheitliche Regelung anzustreben. Auch der Grundsatz aus dem Urteil von 1996, dass die Strafverfolgung bei geringer Menge unverhältnismäßig ist, hat sich im Gesetz nie niedergeschlagen. Man überlässt es den Justizministern der Länder, recht willkürlich Richtwerte zu erlassen. Dabei hat die Verhältnismäßigkeit eigentlich Verfassungsrang.

Stichwort: Eingriff in die Grundrechte.

Wenn der Staat die Grundrechte seiner Bürger einschränkt – und das macht er mit dem Drogenverbot – muss die Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das sind definierbare Kriterien. Geeignet heißt schon mal, dass ein Drogenverbot irgendeinen Effekt haben muss, also zum Beispiel Angebot und Nachfrage reduzieren. Das passiert aber nicht.

Und die Angemessenheit?

Der Staat stellt eine potenzielle Selbstschädigung unter Strafandrohung. Beispiel Cannabis: Selbst die Bundesregierung schätzt, dass maximal zehn Prozent der Konsumenten einen problematischen Konsum aufweisen. Eine potenzielle Selbstschädigung mit einer zehnprozentigen Wahrscheinlichkeit wird kriminalisiert. Auch der 40-jährige Gelegenheitskonsument, der für seinen eigenen Bedarf Gras anbaut, ist deshalb einer massiven Strafverfolgung ausgesetzt. Obwohl er sich sicher deutlich weniger schadet als jemand, der regelmäßig Alkohol trinkt oder Zigaretten raucht. Es findet also eine erhebliche rechtliche Ungleichbehandlung statt.

Nun teilt die überwältigende Mehrheit der Fachwelt diese Analyse. Trotzdem folgt die Politik ihr nicht.

Die wenigen Experten, die als Gegner einer Liberalisierung auftreten, sind inzwischen überall namentlich bekannt – weil es so wenige sind. Das kommt auch in der Politik an. Als ich vor drei, vier Jahren angefangen habe, das Thema öffentlich anzusprechen, bin ich selbst für die Forderung nach einer Cannabis-Freigabe von Unionsleuten ausgelacht worden. Bei Cannabis lachen die jetzt nicht mehr, kommen aber mit dem Nachsatz: „Ihr wollt ja sogar Crystal legalisieren.“

Wollen Sie?

Das ist Blödsinn. Ein Produkt wie Crystal käme nie mit Verbraucherschutzbestimmungen auf den legalen Markt, dafür braucht es kein Betäubungsmittelgesetz. Vielleicht gäbe es aber Produkte wie Kokain oder Pervitin – mit kontrollierbarer Reinheit und Wirkstoffgehalt.

Was wäre in Deutschland eigentlich los, wenn Alkohol unter den gleichen Bedingungen produziert und konsumiert werden müsste wie andere Drogen?

Dann hätten wir lauter Todesfälle, Erblindungen und andere Krankheiten. Die Alkoholprohibition in den USA und anderen Ländern hat gezeigt, was passiert, wenn ein solches Produkt verboten wird. In dem Moment, in dem man die staatliche Kontrolle aufgibt, wird ein ohnehin nicht ungefährlicher Stoff um ein vielfaches gefährlicher.
 

 

Interview: Sebastian Pfeffer

 

The European, 20. März 2015