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Dietmar Bartsch © Britta Pedersen/dpaFoto: Britta Pedersen/dpa

Steuern senken für die unteren 70 Prozent

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung,


Deutschlands Steuersystem vertieft die soziale Spaltung und kann die Kosten der Wirtschaftskrise nicht bewältigen, die von der Corona-Krise verursacht werden. Deshalb müssen die oberen 30 Prozent mehr in die Pflicht genommen werden. Ein Gastbeitrag von Dietmar Bartsch


Pflegerinnen und Pfleger, Verkäuferinnen und Verkäufer, Busfahrer und Lokführer, andere Leistungsträger mit viel zu niedrigen Löhnen sollten in diesem Jahr von der Lohnsteuer ganz oder teilweise befreit werden. Menschen, die in diesen harten Wochen das Land am Laufen halten, haben nicht nur unser aller Dank, sondern eine schnelle Steuerentlastung und künftig ordentliche Gehälter verdient.

Als wichtige Lehre aus der Corona-Krise sollte unser System aus Löhnen, Steuern und Abgaben die wahren Leistungsträger dieses Landes besserstellen. Zur Finanzierung der Hilfspakete für Realwirtschaft, Unternehmen und Soloselbständige braucht es mittelfristig eine große Steuerreform.

Unser Steuersystem ist nicht leistungsgerecht. Es vertieft die soziale Spaltung und wird die Kosten der Wirtschaftskrise nicht bewältigen können, sollte es nicht grundlegend reformiert werden. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung sind seit 1998 die „unteren“ 70 Prozent der Bevölkerung bei Steuern und Abgaben belastet und die „oberen“ 30 Prozent entlastet worden.

Das Finanzministerium gibt auf meine Anfrage an, dass Geringverdiener und Mittelschicht 81 Prozent des Sozialstaates bezahlen, obwohl sie nur über knapp zwei Drittel der Einkommen in Deutschland verfügen. Wir erleben eine sich seit Jahren verstärkende Unwucht.

Zudem sind die Reallöhne in zehn Jahren Aufschwung deutlich zu gering gestiegen. Es ist kein Wunder, dass 57 Prozent der Deutschen der Auffassung sind, dass sich Leistung zu wenig lohnt. Pflegerinnen, Erzieher, Verkäuferinnen, Polizisten – die wahren Stützen unseres Landes – können kaum zu einer anderen Einschätzung kommen. Ihre Löhne sind zu niedrig, ihre Steuern und Abgaben zu hoch.

Laut OECD müssen Arbeitnehmer hierzulande durchschnittlich 33,3 Prozent an Abzügen hinnehmen. In den Niederlanden sind es 27,2 Prozent, in Frankreich 21,1 Prozent, in Schweden 19,2 Prozent. Der Unterschied: In fast allen anderen OECD-Staaten zahlen Arbeitgeber mehr als Arbeitnehmer in die Sozialkassen ein.

Gerechtigkeitsdefizit bei Löhnen, Steuern und Abgaben

Es gibt in Deutschland ein Gerechtigkeitsdefizit bei Löhnen, Steuern und Abgaben. Zum Beispiel wäre ein Mindestlohn von zwölf Euro das Mindeste. Der Staat würde dadurch rund zehn Milliarden Euro im Jahr sparen, da Aufstockerleistungen entfielen. Die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern ist leistungsfeindlich. Ein Gegenmittel ist eine bessere Bezahlung von Berufen, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden und die – das sehen wir in diesen Tagen – systemrelevant sind: zum Beispiel in Pflege und Gesundheit.

Hier herrscht auch deshalb ein Fachkräftemangel, weil sich Leistung aufgrund schlechter Löhne und Arbeitsbedingungen oft zu wenig lohnt. Bei den Sozialabgaben greifen die Beitragsbemessungsgrenzen zu früh. Topverdiener sind an der Finanzierung der Sozialversicherungen unterproportional beteiligt. Hier braucht es mehr Solidarität, um die Sozialsysteme krisenfest zu machen. Sie sollten nach dem Prinzip der Bürgerversicherung reformiert werden.

Jetzt müssen Rekordbeträge mobilisiert werden, um die Wirtschaftskrise einzudämmen, kleine und mittlere Unternehmen zu retten und so viele Arbeitsplätze wie möglich zu sichern. Aktuell ist nicht die Zeit, zuerst an die Kosten zu denken. Ja, die „Bazooka“ wird teuer.

Vermögenssteuer, um die Folgen des Virus zu stemmen

Es muss verhindert werden, dass diejenigen sie bezahlen, die schon die Kosten der Bankenkrise tragen mussten. Dieser Fehler darf sich nicht wiederholen. Daher brauchen wir eine große Steuerreform, die die „oberen“ 30 Prozent mehr in die Verantwortung nimmt. Das sind Bürgerinnen und Bürger, die von der Steuerpolitik und dem Aufschwung in den vergangenen Jahren am meisten profitiert haben.

Dazu gehört, dass zum Beispiel „leistungsloses“ Vermögen bei Erbschaften deutlich höher besteuert wird. 600 Personen haben 2018 jeweils mehr als zehn Millionen Euro geerbt oder geschenkt bekommen. Gesamtsumme: 31 Milliarden Euro. Reale Besteuerung: Fünf Prozent. Das ist eine Ohrfeige für jeden, der früh aufsteht, zur Arbeit fährt oder jetzt in der Corona-Krise Angst um seine soziale Existenz haben muss. Gut, dass die SPD ihre Position bei der Vermögensteuer korrigiert hat. Deren Wiedererhebung wird notwendig sein, um die finanziellen Folgen des Virus zu stemmen.

Das Land steht vor der größten Bewährungsprobe der letzten Jahrzehnte. Dafür braucht es viel Solidarität, noch nie dagewesene Konjunkturprogramme, mehr Gerechtigkeit für diejenigen, die dieses Land am Laufen halten, und eine große Steuerreform zur Finanzierung der anstehenden gewaltigen Herausforderungen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung,