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Solidarität neu erfinden

Nachricht von Doris Achelwilm,

Nachdem wir im Jahr 2019 auf CSDs und Bühnen, in Clubs und Medien stolze 50 Jahre Stonewall gefeiert haben, stehen wir in diesem Jahr da wie nach einem Schicksalsschlag. Mitten in einer Gesamtsituation, die heftige Verluste mit sich bringt und brachte, auch nicht vorbei ist und alle Pläne und Perspektiven auf den Kopf stellt. Corona zeigt, wie reformbedürftig unsere Gesundheits- und Wirtschaftssysteme sind, das warenproduzierendes Patriachat, viele Arbeits- und Rollenverhältnisse, aber auch wie verwundbar wir als Einzelne sind. Die Auseinandersetzung um Rettungsschirme und Sofortmaßnahmen hat am ersten Tag offizieller Pandemie-Bekämpfung mit aller Macht begonnen. Und es liegt weniger am Zeitdruck als an bestehenden Kräfteverhältnissen, dass bislang nicht für alle Betroffenen gerecht entschieden und nachgedacht wurde. Auch queere Interessen geraten neu unter Druck und fallen durch Raster. Der Appell aus dem Vorjahr, die CSD-Saison wieder stärker zu politisieren, klingt dringlicher denn je. Gleichzeitig sind die meisten der 75 bundesweiten Pride-Paraden abgesagt. Die Möglichkeiten, sich zu versammeln, sich zu zeigen und zu feiern, bleiben eingeschränkt. Auch das: eine Frage der Solidarität. Was also tun?

Queerer Schutzschirm 

Es hilft, dass queere Communities eine Menge über die Organisation von Zusammenhalt wissen und bereits Unglaubliches an Soli-Aktionen, Selbsthilfe und Netzwerkarbeit auf die Beine gestellt haben. Diese Arbeit ist keine Selbstverständlichkeit und gehört öffentlich gesehen und unterstützt. Es darf nicht sein, dass LSBTTIQ*, ihre Institutionen und Infrastrukturen bei der Existenzsicherung auf sich und ihre Eigeninitiative gestellt sind. Es braucht Schutzschirme auch für Lebensweisen jenseits der (behaupteten) Norm:

  • Für Menschen, die als Teil einer Minderheit noch stärker von sozialen Ungleichheiten betroffen sind.
  • Für Künstler*innen und Kulturschaffende, die sich immer durchgeschlagen haben, jetzt jedoch am Limit ihrer Überlebenskunst und jahrelang verteidigten Autonomie sind. Ihnen fehlen schlicht die Aufträge.
  • Für queere und andere unabhängige Medien, die unter den Anzeigenverlusten in die Knie gehen, obwohl es Informationsbedürfnisse ohne Ende gibt. 
  • Für Jugendliche, die keinen Ausgleich zu schwierigen Familienverhältnissen finden, weil Treffpunkte und Beratungsangebote nur bedingt zur Verfügung stehen.
  • Für Sexarbeiter*innen, die sich neuen Berufsverbotsvorstößen und Diffamierungen ausgesetzt sehen.
  • Für Familien, die nicht dem heteronormativen Bild entsprechen und deshalb bei vielen Regelungen wieder nicht mitgedacht werden. 
  • Für Menschen, die jahrelang auf eine geschlechtsangleichende Operation hingearbeitet haben und erneut vor geplatzten Terminen und Versorgungslagen stehen. 
  • Für alle, die international darunter zu leiden haben, dass autoritäre Regierungen den Druck gegen queere Minderheiten erhöhen. Zuletzt in Ungarn, wo Regierungschef Orbán durchgesetzt hat, dass nur noch das bei Geburt festgestellte Geschlecht zählt, und trans* Menschen damit ihre Daseinsberechtigung praktisch abgesprochen wird. 

Es ist wichtig, trotz eigener Sorgen für die mitzukämpfen, denen es schlechter geht. Es ist wichtig, hier vor Ort gegen die Verdrängung aus erkämpften Räumen, gegen unverschuldete Verschuldung, gegen rechtliche Benachteiligung und eine Politik der wirtschaftlich Stärkeren zu kämpfen, die alles solidarisch Erkämpfte vereinnahmt oder in den Schatten stellt. Dafür braucht es eine sichtbare Queerpolitik und entsprechende Schutzprogramme gerade auch in Zeiten der Krise. Das Hochhalten der Verteilungsfrage gehört dazu: Je mehr Geld nach oben verteilt wird, an Konzerne etwa, die noch Dividenden ausschütten, desto weniger bleibt für eine Daseinsvorsorge, die für alle da sein muss. Wie wollen es andersrum. Let’s get loud!

Doris Achelwilm ist queerpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag