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Schulen verkommen zu Verwahranstalten

Interview der Woche von Norman Paech,

Norman Paech verfügt durch seine mehr als dreißigjährige Berufserfahrung als Hochschullehrer und den regelmäßigen Kontakt zu den Menschen in seinem Hamburger Wahlkreis über einen unmittelbaren Einblick in die Lage der Hansestadt

11,6 Prozent aller Jugendlichen in Hamburg verließen 2006 die Schule ohne Hauptschulabschluss, mehr als in jedem anderen Bundesland. In Hessen wurde gerade erst der CDU-Ministerpräsident von den Wählerinnen und Wählern insbesondere auch für seine verheerende bildungspolitische Bilanz abgestraft. Worin sehen Sie die Ursachen für die Bildungsmisere in Ihrer Heimatstadt?

Am Osdorfer Born, in Lurup oder Altona-Nord brechen sogar bis zu 34 Prozent die Hauptschule ab. Das sind Stadtteile mit einer hohen Armutsrate, überdurchschnittlich vielen Migrantenfamilien und Alleinerziehenden. Dass die soziale Herkunft den Bildungserfolg bestimmt, hat Ursachen: Hamburg investiert zu wenig in Bildung. Schulen verkommen zwangsläufig zu Verwahranstalten.

Ein zweites Problem ist die Hauptschule als Schultyp selbst. Mit ihr werden Kinder im Alter von zehn Jahren in die Chancen- und Perspektivlosigkeit ausgesondert. Ich verstehe, dass sich junge Menschen nicht selbst motivieren können, wenn sie mit Hauptschulabschluss kaum Aussichten auf einen Ausbildungsplatz und eine eigenständige berufliche Existenz haben.

Also hat PISA Recht?

Unzählige Studien, von denen PISA nur die bekannteste ist, haben immer wieder dasselbe gezeigt: die Selektion der Kinder durch ein mehrgliedriges Schulsystem - sei es nun zwei-, drei- oder gar sechsgleisig wie in Hamburg - ist aus pädagogischer wie aus volkswirtschaftlicher Hinsicht vollkommen irrsinnig. Es gibt nicht drei oder vier Typen von Kindern - jedes Kind ist einzigartig in seinen Stärken und Schwächen, seinen Begabungen und Interessen. Manche sind schneller und starten früher durch, andere brauchen mehr Zeit und Hilfe. Wenn unterschiedliche Kinder zusammen kommen, lernen sie voneinander und gemeinsam mehr. In den erfolgreichen Ländern gibt es deshalb eine Schule, in der jedes Kind individuell gefördert wird, ohne Sortieren, Sitzen bleiben und Abschulen.

Welches sind die wichtigsten Themen in den Gesprächen mit den Menschen in Ihrem Wahlkreis?

Neben der Bildungspolitik empören umweltpolitische Skandale wie die Planung des Mega-Kohlekraftwerks in Moorburg viele Menschen. Grundsätzlich ist die Umweltbelastung in einer Großstadt, die so lange und so einseitig auf den Autoverkehr gesetzt hat, ein großes Problem. Viele Bürgerinnen und Bürger sind zudem besorgt über den Abbau der Freiheitsrechte ebenso wie den der sozialen Teilhaberechte.

Aber Hamburg gilt doch als Boomtwon.

Vielen Menschen ist dennoch nichts Gutes aus der neoliberalen Standortpolitik erwachsen. Sie sind vielmehr mit schlechteren Jobs, mit weniger öffentlicher Unterstützung und düstereren Zukunftsperspektiven als je zuvor konfrontiert. In Hamburg, dieser reichsten Stadt Deutschlands, lebt fast jedes vierte Kind in Armut.

Was unternimmt die Landesregierung dagegen?

Wer ein Kind von 2,56 Euro am Tag nicht ausgewogen ernähren könne, müsse besser kochen lernen. Das ist alles, was der Senat diesen Eltern zu sagen hat, für die er schon lange nichts mehr tut.

Seit mehreren Jahren vollzieht sich in Hamburg ein breit angelegter Stadtumbau. In zentrale Bereiche, die touristisch und kommerziell interessant sind, wird sehr viel Geld investiert.

Die Hafencity mit ihrer Elbphilharmonie, die inklusive U-Bahn-Anschluss weit über eine Milliarde kosten wird, ist das bekannteste Beispiel. Das alles wäre nicht schlimm, wenn die ansässigen Millionäre auch die Kosten für das neue Millionärsghetto tragen würden. Das tun sie aber nicht, die Hamburger Finanzämter sind bundesweit notorisch für ihre Laxheit. An der Elbchaussee werden die niedrigsten Steuern gezahlt.

Das klingt nach Spannungen innerhalb der Hamburger Gesellschaft.

Der Senat instrumentalisiert diese Spannungen in einer derart autoritäten Manier, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf der Strecke bleiben. Viele Menschen kommen auch, weil ihr Recht auf Meinungsäußerung, auf Versammlungsfreiheit, auf informationelle Selbstbestimmung bedroht ist. Schäubles Überwachungsstaat passt wie ein Handschuh auf die Repressionspolitik, die der Senat in den letzten Jahren vorlegt hat. Das geht von fast flächendeckender Kameraüberwachung über die Vertreibung von Obdachlosen bis hin zu Praktiken der Ausländerbehörde, die alle rechtsstaatlichen Prinzipien verhöhnen. Im Vorfeld des G8-Gipfels wurde die Post ganzer Stadtteile vom Staatsschutz durchwühlt, und seit Beusts Amtsantritt existiert ein quasi unbefristetes Demonstrationsverbot für die komplette Innenstadt. Das Hamburger Verfassungsschutzgesetz wurde - übrigens mit den Stimmen der SPD - dahingehend geändert, dass nun praktisch jeder, der irgendwie politisch aktiv ist, überwacht werden darf. Der Name Schill gilt als Synonym für durchgeknallten Rechtspopulismus in Hamburg, doch Innenpolitik à la Schill begann noch zu SPD-Zeiten unter dem damaligen Innensenator Olaf Scholz und wird vom CDU-Senat unverändert fortgeführt.

Mit Michael Naumann will nun ein ehemaliges Mitglied der Regierung von Hartz-Kanzler Schröder Landesvater werden. Die SPD selbst versucht, das Thema Mindestlohn für sich zu vereinnahmen, obwohl die sozialdemokratischen Abgeordneten im Bundestag wiederholt dagegen gestimmt haben. Nehmen die Menschen Vorort überhaupt wahr, welche Partei welche Politik in Berlin macht?

Dass eine der Agenda-Parteien am Thema Mindestlohn nicht mehr vorbeikommt, zeigt, wie erfolgreich DIE LINKE in Berlin und den Ländern Oppositionspolitik macht. Die Distanz zur Hauptstadt ist allerdings nicht so groß, dass die Hamburger die Diskrepanz zwischen Wahlkampfsprüchen hier und realem Abstimmungsverhalten dort nicht wahrnehmen. Die Leute sind viel informierter, als es das politische Establishment oft wahrhaben will. Und sie lassen sich nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag mit Lippenbekenntnissen abspeisen. Das will die SPD, die in der Mindestlohnfrage auf Zeit spielt, immer noch nicht realisieren.

Und was wird, wenn die SPD den Bürgermeister stellt?

Naumann ist sich möglicherweise noch nicht wirklich bewusst, dass wir ihn, sollte er zum Bürgermeister gewählt werden, sehr bald beim Wort nehmen werden. Vielleicht laufen in der SPD-Zentrale aber auch schon Planspiele, wie die Wahlversprechen nach dem 24. Februar unauffällig entsorgt werden können.

DIE LINKE ist gerade in die Landtage von Hessen und Niedersachsen eingezogen. Welche Rolle spielt für sie als Mitglied des Bundestages die landespolitische Verankerung ihrer Partei?

Inhaltlich haben wir durch die Bündelung vieler kompetenter und engagierter Menschen, die oft zugleich in den unterschiedlichsten sozialen Bewegungen und Netzwerken aktiv sind, viel gewonnen. Und ich habe den Eindruck, dass diese Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen ist und durch die Wahlen weiter vorangetrieben werden wird.

Zentral für linke Politik ist es ja, sich nicht auf formale Stellvertretung zurückzuziehen, sondern gemeinsam mit den Betroffenen Perspektiven und Aktivitäten zu entwickeln. Aus dem „Raumschiff“ Bundestag heraus ist das bisweilen nur schwer möglich, und das verursacht mir manchmal ein schlechtes Gewissen. Insoweit ist für mich als politischen Handlungsreisenden auch die Zusammenarbeit mit den vielen Menschen so wichtig, die ganz unmittelbar in den lokalen Zusammenhängen verankert sind. Leute, die aus eigener Erfahrung wissen, was es beispielsweise heißt, mit der Hamburger ARGE konfrontiert zu sein oder keinen Krippenplatz zu finden, und die sich die Probleme vorknöpfen, die man auf Landesebene lösen oder zumindest abmildern kann, solange keine akzeptable bundespolitische Regelung durchgesetzt worden ist.

Was würde sich für Ihre Arbeit ändern, wenn DIE LINKE am 24. Februar den Sprung in die Hamburger Bürgerschaft vollzieht?

Eine linke Fraktion in der Bürgerschaft hat beispielsweise ganz andere Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen und diese zu kommunizieren, als das in der rein außerparlamentarischen Arbeit der Fall ist. Und das wird auch mir bei der Vertretung Hamburgs im Bundestag helfen.

linksfraktion. de, 11. Februar 2008