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Protestrepublik Deutschland

Im Wortlaut,

Immer mehr Menschen begehren auf. Sie organisieren sich in Bürgerinitiativen, starten Volksbegehren, organisieren Demonstrationen und Kundgebungen. clara hat sich mit einer Studentin im Wendland unter die Anti-Atom-Bewegung gemischt, ist einem Hamburger Gewerkschafter auf eine Demo der IG Metall gefolgt und hat in Stuttgart eine Angestellte bei den Protesten gegen Europas größtes Bau- und Immobilienprojekt begleitet.

Wendland, 7. November 2010

Ein Flüstern geht durch die Scheune, Schlafsäcke rascheln. Sarah F.* erwacht neben 100 Menschen auf dem Erdboden einer alten Scheune im Wendland. Sie alle sind in das kleine Dorf Metzingen gereist, um an diesem Tag den Castor-Transport aufzuhalten. Für Sarah F. ist es eine Premiere: Erstmals beteiligt sie sich an den Anti-Atom-Protesten im Wendland.

Sie schlüpft in ihre Wanderschuhe, zieht ihre Winterjacke an und geht nach draußen. Im Hof prasseln zwei kleine Lagerfeuer. Es ist 4.17 Uhr und noch stockdunkel. Sarah F. setzt sich an die wärmende Glut. Die junge Studentin ist eine von vielen tausend Demonstranten, die sich an diesem frühen Morgen an Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligen. Gemeinsam mit Freunden will sie das Gleis „schottern“, also Schottersteine aus dem Gleisbett heraus graben, um die Schienen kurzzeitig unbefahrbar zu machen.

Fünf Stunden später, als Sarah F. nach einer langen Wanderung nur noch zehn Meter vom Gleis entfernt ist, detoniert neben ihr eine Gasgranate. Augenblicklich flüchten hunderte Menschen hinter ihr den Hang hinunter. Auf dem Gleis schlagen Polizisten auf die Anti-AKW-Aktivisten ein, sprühen mit Pfefferspray um sich. Einige der Demonstranten schützen sich mit Strohballen vor den Schlagstöcken. Überall schweben Gaswolken umher. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass Sarah F. Tränengas abbekommt. Ihr Gesicht brennt, sie bekommt nur noch schwer Luft. Wie die meisten anderen flüchtet sie in den Wald. Sie rennt durch das Dickicht bis sie schließlich eine Lichtung erreicht.

123 Tonnen hochradioaktiver Müll

Über 50000 Menschen protestieren an diesem Wochenende gegen den Transport von rund 123 Tonnen hochradioaktivem Müll aus dem französischen La Hague ins niedersächsische Gorleben. Viele Demonstranten harren mehr als 40 Stunden bei kaltem Nieselregen im Wendland aus. In der niedersächsischen Provinz ist der Protest gegen Atomkraft beheimatet, seit die Politik dort das Endlager Gorleben errichten will. Doch dieses Wochenende staunen selbst einheimische Bauern: Es sind die größte Proteste gegen Atomkraft, die das Wendland seit vielen, vielen Jahren erlebt hat. Angst und Wut treiben die Menschen auf die Straße. Angst vor den vielen Tonnen Atommüll, die jedes Jahr produziert werden. Und Wut auf die Regierung, die jüngst die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängerte und so den Energiekonzernen gewaltige Extraprofite schenkte.

Auf einer Waldlichtung sammeln sich Sarah F. und ihre zersplitterte Gruppe. Schüler, Studierende, Mittdreißiger, ältere Ehepaare sind dabei. „Ziviler Ungehorsam ist notwendig“, sagt Sarah F., „dreiviertel der Bevölkerung fordern den Ausstieg aus der Atomkraft, aber CDU, CSU und FDP machen Politik nur für die Wirtschaft.“ Gemeinsam beschließt die Gruppe, es noch einmal zu versuchen. Dieses Mal sind die Polizisten dem Ansturm nicht gewachsen. Überall graben die Aktivisten Schottersteine unter dem Gleisbett heraus. Für Sarah F. ist es der schönste Moment des Tages: „Wir sind einfach zu viele für sie!“ Die Aktivisten legen rund 100 Meter Gleisbett frei. Gemeinsam mit den Gleisbesetzern halten sie den Castor-Transport so lange auf wie noch nie in der Geschichte des Wendlands.

 

Hamburg, 30. Oktober 2010

Gerald Kemski steht auf einer Fußgängerbrücke. Unter ihm fließt die Elbe träge und grau, Ton in Ton mit der Stahlfassade der Hamburger Traditionswerft Blohm & Voss, die am Ufer emporragt. Er verteilt rote Fahnen an seine Kollegen und Flugblätter an die Passanten. Die Werftarbeiter stehen vor den Werkstoren und schwenken IG-Metall-Fahnen. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ steht auf dem Banner, das Gerald Kemski am Brückengeländer festzurrt. Und: „Leiharbeit begrenzen!“.

Mehr als tausend Beschäftigte aus den Werften, von Airbus Hamburg und anderen Metall-Betrieben sammeln sich an diesem Samstagmittag auf dem Platz beim Fischmarkt. Die meisten von ihnen sind Männer um die 50, aber auch Frauen, Azubis und Kinder sind gekommen. Sie protestieren gegen die Kürzungsoffensive der Bundesregierung. Gegen ungerechten Arbeitsbedingungen von Leiharbeitern, gegen die Rente ab 67 und gegen höhere Krankenkassenbeiträge. Sie sind gekommen, um sich dagegen zu wehren, dass die Profite der Banken mit Steuermilliarden gesichert werden und nun Alte, Kranke und prekär Beschäftigte dafür zahlen sollen. Der Vize-Chef der IG Metall hält eine Rede. Die Leute in der Menge schwenken tapfer ihre Fahnen. Doch im Grunde passiert nicht viel.

„Wir lösen kaum Druck aus“

Der Wind weht heute nur schwach. Gerald Kemski hält eine Fahne mit dem Aufdruck DIE LINKE hoch. Fahnen anderer Parteien sind nicht zu sehen. Er zieht sich seine schwarze St.-Pauli-Mütze ein wenig tiefer ins Gesicht. „In Frankreich tobt der Bär“, seufzt er, „und wir hier lösen kaum Druck aus.“ Die Krise bringe die Massen nicht auf die Straße, das Thema sei für viele einfach zu abstrakt. Auch die Mobilisierung der Gewerkschaften sei eher halbherzig gewesen, „obwohl gerade in den Betrieben Potential vorhanden wäre“.

Gerald Kemski ist seit vielen Jahrzehnten politisch aktiv. Der 59-Jährige hat im Hamburger Hafen gelernt. Er ist sich sicher: Nur mit Hilfe der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder kann aus den Betrieben heraus Druck auf Wirtschaft und Politik entstehen. Deshalb verbringt er den halben Samstag auf der Demonstration, nimmt an der Kundgebung teil. Am heutigen Nachmittag wird er jedoch nicht mehr mit der IG Metall in Barkassen über die Elbe schippern. Lieber geht er zum Spiel des FC St. Pauli.


Stuttgart, 30. Oktober 2010

Roland Hamm läuft mit rund 30000 Menschen an diesem sonnig-milden Samstagnachmittag durch die Stuttgarter Innenstadt, um gegen das Mega-Bauprojekt Stuttgart 21 zu protestieren. Der 54-jährige arbeitet als IG-Metall-Bevollmächtigter in Aaalen. Er hat eine Gruppe „Gewerkschafter gegen Stuttgart 21“ gegründet, weil „hier Milliarden vergraben werden, die zum Beispiel im öffentlichen Dienst fehlen“. Rund 70 Kilometer ist er an diesem Tag mit angereist. „S21 geht uns im Ländle alle an“, sagt er. Als der Demonstrationszug das Landtagsgebäude erreicht, erschallt ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert. „Mappus weg“, schreit Roland Hamm wie so viele um ihn herum.

Stefan Mappus ist CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg und einer der eifrigsten Unterstützer des milliardenschweren Bauprojekts. Den alten Kopfbahnhof, eines der Wahrzeichen der Schwabenmetropole, will er abreißen und durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof sowie ein 33 Kilometer langes Tunnelnetz ersetzen lassen. Bei Europas größtem Bau- und Immobilienprojekt geht es um einen unterirdischen Bahnhofsneubau und darum, dass auf den heutigen Bahnflächen in der Innenstadt ein Nobelstadtviertel entstehen soll. Gegen diese Pläne protestieren seit Monaten Zehntausende Frauen und Männer. Seite an Seite begehren Zahnärzte und Arzthelferinnen, Arbeiter und Handwerksmeister, Beamte, Anwälte und Erzieherinnen auf.

„Protest verändert Menschen“

Auch Dagmar Uhlig ist an diesem Tag auf der Straße. Sie hat diesen Protest von Beginn an begleitet. Die 50-jährige kaufmännische Angestellte harrte im Stuttgarter Schlosspark stundenlang aus, bis in den frühen Morgenstunden des 1. Oktober 2010 Bagger anrollten und die uralten Parkbäume wie Streichhölzer fällten, damit weiter gebaut werden kann. Sie erlebte, wie Polizisten plötzlich den Park stürmten, auf Schüler und alte Menschen einprügelten und mit Wasserwerfern schutzlose Demonstranten verletzten. „Neben mir hat eine 70-jährige Dame geweint, wir haben uns dann in den Arm genommen“, erinnert sie sich. „Der Protest verändert die Menschen, man spricht auf einmal auch in der Straßenbahn miteinander“, erzählt die Stuttgarterin fröhlich. Entschlossen trägt sie ihr Transparent am Sitz des baden-württembergischen Landtags vorbei. „Merkel und Mappus spalten das Land“ steht darauf.

Roland Hamm ist überzeugt, dass außerparlamentarische Aktivitäten etwas bewegen können. Die Stuttgarter Massenproteste betrachtet er als eine Reaktion darauf, dass die Politik Bürgerinnen und Bürger zu oft und zu lange für dumm zu verkauft hat. „Die Gewerkschaften müssen endlich bei einem solch widersinnigen Projekt Farbe bekennen“, sagt er entschlossen und reckt eine rote Karte in die Höhe. Nach der Demonstration verabschiedet er sich von Stuttgarter Freuden: „Bis bald!“ Noch am Abend muss er zurück nach Aalen fahren. Zur nächsten Demonstration wird er wieder in die Landeshauptstadt reisen.

 


* Die Redaktion hat den Namen geändert, um Sarah F. vor einer etwaigen Strafverfolgung zu schützen.

 

Von Ole Vincent Guinand, May Naomi Blank, Ruben Lehnert, Hans-Gerd Öfinger