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Petra Pau: »Die Stimmung kippt«

Im Wortlaut von Petra Pau,

Eltern mit ihren Kindern an der provisorischen Wasserstelle in der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge Berlin, Foto: Stefanie Loos/Reuters 

 

Fluchtursachen können nicht politisch wegbeschlossen werden, sagt die Linken-Politikerin Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages im Interview. Die gesellschaftspolitische Situation in Deutschland empfindet sie als bedrohlich. Interview: Matthias Meisner

 

Frau Pau, 800.000 Asylsuchende werden in diesem Jahr erwartet, so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Was bedeutet das für das gesellschaftliche Klima im Land?

Petra Pau: Wir sind in einer bedrohlichen gesellschaftspolitischen Situation. Die Stimmung kippt. Wir haben täglich Übergriffe, Angriffe auf Asylunterkünfte, auf Asylbewerber, aber auch auf Menschen, die sich im Alltag für einen menschenwürdigen Umgang mit diesen Flüchtlingen engagieren. Das Ganze wird befeuert nur von Bewegungen wie Pegida und organisierten Rechten, aber leider auch durch unverantwortliche Äußerungen von Politikern oder Stimmungsmache in manchen Medien.

Was erwarten Sie vom Bundesinnenminister Thomas de Maizière?

Er darf es nicht dabei belassen, Zahlen vorzulegen. Ich vermisse ein tragfähiges Konzept, wie wir die Flüchtlinge menschenwürdig aufnehmen, ihnen ein rechtsstaatliches Asylverfahren gewährleisten und gleichzeitig die Bevölkerung besser aufklären über das, was auf sie zukommt. Auch die Finanzierungsfrage zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist nicht geklärt. Ich will nicht, dass Kommunalpolitiker irgendwann entscheiden müssen, ob sie ihre Pflichtaufgaben gegenüber den Senioren oder Jugendlichen erfüllen oder das Geld zur Aufnahme von Flüchtlingen verwenden.

Vor allem bei den Flüchtlingen vom Westbalkan sind die Anerkennungsquoten extrem niedrig. Ist die Flucht von Menschen etwa aus dem Kosovo, Albanien und Serbien unbegründet?

Die Probleme der größten Minderheit in Europa, der Sinti und Roma, lösen wir nicht, indem wir Fluchtursachen politisch wegbeschließen, wie es im Fall des Balkans geschehen ist. Die meisten dieser Länder wurden zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Der Blick ins richtige Leben aber zeigt, dass diese Minderheit diskriminiert wird und häufig auch um Leib und Leben fürchtet. Das betrifft Staaten des Westbalkans, ebenso EU-Mitgliedsländer wie Ungarn und Slowakei. Dort meinen Nazibanden, das Recht – in diesem Fall das Unrecht – selbst in die Hand nehmen zu müssen. Ich verstehe nicht, warum die Bundeskanzlerin oder auch andere Mitglieder der Bundesregierung sich nicht deutlich zu den Zuständen äußern.

Der sächsische CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer hat den Bau des ungarischen Grenzzauns zu Serbien sogar ausdrücklich begrüßt.

Es macht mich fassungslos, wenn von einem Mitgliedsstaat der EU eine Mauer gebaut wird. Wenn sich Flüchtlinge auf den Weg gemacht haben – und keiner verlässt leichtfertig seine Heimat –, werden sie sich durch den Grenzzaun nicht aufhalten lassen. Aber die Fluchtwege werden noch unsicherer. Wir haben jetzt schon die Situation, dass das Mittelmeer der größte Friedhof ist. Mehr denn je muss es endlich auch um die Bekämpfung von Fluchtursachen gehen. Vor den außen- und innenpolitischen Auseinandersetzungen dazu darf man sich auch unter Freunden nicht scheuen.

Umgekehrt ist die Anerkennungsquote aus Bürgerkriegsländern wie Syrien sehr hoch, nahe 100 Prozent. Das heißt praktisch, dass in den nächsten Jahren Hunderttausende eine neue Heimat in Deutschland finden werden, darunter sehr viele Muslime. Was bedeutet das?

Das ist eine Aufgabe, die wir schon sehr lange verschlafen haben. Wir sind ein Einwanderungsland und eine multireligiösere Gesellschaft. Das muss Konsequenzen haben für Bildung, für Kultur. Das beginnt beim Recht der freien Religionsausübung, wozu gehört, dass Gotteshäuser errichtet werden können und sollten. Und das muss endlich auch Konsequenzen haben für die Bildungspläne. Jedes Kind sollte erfahren, warum der Nachbar gerade fastet oder Chanukka feiert. Und jedes Kind muss erfahren, wie Christen Weihnachten feiern. 

 

Tagesspiegel, 20. August 2015