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Paukenschlag

Im Wortlaut von Wolfgang Neskovic,

Ausputzer für die Politik. Gastkommentar

Von Wolfgang Neskovic

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Hartz-IV- Regelsätzen für Kinder ist ein Paukenschlag. In die Freude über das wegweisende Urteil mischt sich jedoch auch Besorgnis. Das oberste Gericht wird zunehmend zum Ausputzer für Politik, die unfähig und unwillig ist, das Grundgesetz als Maßstab des eigenen Handelns anzuerkennen.

Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat mißachten seit Jahren ihre verfassungsrechtlichen Pflichten. Insbesondere seit 2001 versäumen sie es, das gesamte gesetzgeberische Handeln an der Verfassung auszurichten. Immer wieder haben Exekutive und Legislative in den vergangenen Jahren versucht, die Grenzen des im Rahmen des Grundgesetzes Machbaren bis zum letzten auszureizen.

Auf diese ignorante Haltung hat das BVerfG bislang insbesondere im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung reagiert. Mehrfach erklärten die obersten Richter im Bundestag verabschiedete Gesetze als verfassungswidrig - prominentes Beispiel ist das Flugsicherheitsgesetz. Mit Verweis auf die Würde des Menschen kippten sie das Vorhaben, von Terroristen gekaperte Flugzeuge schlicht abzuschießen. Noch anhängig sind Klagen zur Vorratsdatenspeicherung und zum BKA-Gesetz. Auch hier kann man mit einer Niederlage für Regierung und Parlament rechnen.

Mit der gestrigen Entscheidung hat das BVerfG den Bereich der Freiheitsrechte verlassen. Das Gericht hat sich als Verteidiger dieses Prinzips erwiesen. Es hat das Sozialstaatsprinzip konkretisiert und somit gestärkt. Die Hartz-Regelungen erfüllen laut Urteil »nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums«. Damit argumentieren die Richter, wie bereits im Fall des Flugsicherheitsgesetzes, mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes. Hierin steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Das Gericht stellt fest, daß die Hartz-IV-Regelungen gegen das Kernprinzip unserer Verfassung verstoßen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung nunmehr unmißverständlich einen durchsetzbaren Anspruch auf die staatliche Gewährleistung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben festgelegt. Das stärkt das in den vergangenen Jahren unter Beschuß geratene Sozialstaatsprinzip. Hierfür war es höchste Zeit.

Dennoch wäre ein Bekenntnis zum Sozialstaatsgebot eigentlich Aufgabe des Parlaments. Die Fraktion Die LINKE fordert deshalb die Festschreibung und konkrete Ausgestaltung sozialer Grundrechte im Grundgesetz. Auf diese Weise könnte das Sozialstaatsprinzip dauerhaft vor politischen Angriffen geschützt werden. Wenn das Parlament seine Aufgaben ernst nimmt, überläßt es diese Aufgabe nicht weiterhin den Karlsruher Richtern.

junge Welt, 10. Februar 2010