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Nutzen für alle

Im Wortlaut von Ilja Seifert,

Vor 60 Jahren verabschiedete die UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Und noch immer erfahren wir alltäglich von Menschenrechtsverletzungen. Obwohl diese Konvention »allgemein« war, sich also umfassend verstanden wissen wollte, fanden sich viele und vieles nicht darin wieder. Oder zumindest nicht ausreichend.

Also folgten Erklärungen zu den sozialen Menschenrechten, zu Frauenrechten, zu Kinderrechten, und jüngst das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Der Bundestag stimmte ihm just im selben Monat zu, in dem die Welt den 60. Jahrestag der Menschenrechtsdeklaration feiert. Naja, sie begeht ihn, mancherorts auch ein bisschen feierlich, auch wenn der Blick auf viele Regionen und Zustände der Welt wenig Anlass dafür bietet.

Dabei stünde es der Menschheit gut an, endlich wirklich feiern zu können, dass keines Menschen Rechte mehr verletzt werden. Immerhin: Diese neue Konvention ist ein Grund zum Feiern, nicht nur für die emanzipatorische Behindertenbewegung. »Sonderregelungen« sind nicht selten problematisch, sie fokussieren häufig auf das Trennende - das »Ausgesonderte« - und nicht auf das Zugehörige. Das ist hier nicht der Fall.

Genau besehen betrifft diese erste Menschenrechtskonvention des 21. Jahrhunderts nicht nur Menschen mit Behinderungen und - bestenfalls - ihre Angehörigen. Nein, ihr wohnt die Kraft inne, das Leben aller zu verändern. Und zwar zum Guten. Weil sie alle einschließt. Weil in ihr das Prinzip des Dazugehörens waltet.

Zwar versuchen Bundes- und Länderregierungen genau diese Stärke der Konvention abzumildern. Sie beharrten in der amtlichen deutschen Übersetzung starrköpfig auf dem Begriff »Integration«, wo es im englischen Original »inclusion« heißt und auch hierzulande in der fachlichen Auseinandersetzung längst von »Inklusion« gesprochen wird, weil dies die Selbstverständlichkeit des Dazugehörens viel besser ausdrückt, und vermieden komplett den Begriff »Selbstbestimmung«. Doch dies sind höchstens Kratzerchen an der Bedeutung des Textes, ernsthaft beschädigen lassen die Betroffenen, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, ihre kodifizierten Rechte nicht.

Die Konvention überwindet die medizinische Sicht auf Behinderung. Sie gibt ihr eine soziale Dimension. Vor allem aber hebt sie die Problematik auf die Ebene der Menschenrechte. Es geht um die Ermöglichung von Teilhabe und die Entfaltung von Persönlichkeit. Nicht die (behinderten und/oder chronisch oder psychisch erkrankten) Menschen müssen sich der gesellschaftlichen Umwelt - einschließlich ihrer baulichen, kommunikativen, verwaltungstechnischen und sonstigen Barrieren, auch nicht denen in manchen Köpfen - anpassen, sondern umgekehrt: Die Gesellschaft ist verpflichtet, alle Voraussetzungen für die volle und selbstbestimmte Teilhabe all ihrer Mitglieder, also auch derer mit schwersten Beeinträchtigungen, zu schaffen.

Das Hauptinstrument der Gesellschaft dafür ist der Staat auf all seinen Ebenen. Hinzu kommt zivilgesellschaftliches Engagement. Gefragt sind universelles Design, das - von den speziellen Bedürfnissen behinderter Menschen ausgehend - Lösungen bietet, deren Nutzen allen zugute kommt.

Ich hielte es für einen triftigen Grund zum Feiern, wenn wir nicht nach abermals 60 Jahren mit Bedauern feststellen müssten, dass elementare Rechte von Menschen mit und ohne Behinderungen tagtäglich verletzt werden. Weltweit.

Von Ilja Seifert

Neues Deutschland, 13. Dezember 2008