Zum Hauptinhalt springen

Neue wirksame soziale Leitplanken

Kolumne von Bodo Ramelow,

Gastkolumne von Bodo Ramelow, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Thüringer Landtag

 

In der griechischen Mythologie gibt es das schlangenähnliche Ungeheuer namens Hydra. Herakles sollte dieses Ungeheuer stoppen und die Katastrophen, die die Hydra über die Menschen brachte, endlich beenden. Die Hydra pflegte aufs Land zu kommen, Viehherden zu zerreißen und Felder zu verwüsten. Heute könnte man sagen, ein solches Ungeheuer zerstört die Grundlagen gesellschaftlichen Lebens. Immer wenn Herakles einen Kopf abschlug, wuchsen zwei nach. So müssen sich heute Menschen fühlen, die täglich zur Arbeit gehen und sich trotzdem nicht von ihrer Hände Arbeit ernähren können. In Thüringen war Niedriglohn lange Zeit ein Markenzeichen der Thüringer Wirtschaftsförderungswerbung. Die CDU-geführten Landesregierungen scheuten sich nicht, mit Niedriglohn als besonderem Standortfaktor Investoren nach Thüringen zu locken. Der Preis dafür war die bittere Realität von Armut durch Arbeit.

Seit DIE LINKE im Bundestagswahlkampf 2005 als erste deutsche Partei eindeutig und zwingend die Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn erhoben hat, ist gesellschaftspolitisch einiges in Bewegung geraten. In wenigen Tagen soll der gesetzliche Mindestlohn mit 8,50 Euro vereinbart und verankert werden. Allerdings sind die Ausnahmetatbestände vielfältig und schon jetzt steht fest, dass selbst zehn Euro Stundenlohn nur für eine Rente knapp über der Schwelle der Altersarmut reichen würde – 8,50 Euro sind zu wenig. Es fehlt aber noch mehr: Wir brauchen für die soziale Marktwirtschaft endlich wieder wirksame Leitplanken – nicht Knuten, mit denen die Menschen gequält werden. Das System Hartz hat in unseren gesellschaftlichen Entwicklung Spuren hinterlassen. Die Niedriglöhner wurden zu Aufstockern, die Hilfebedürftigen wurden in ungeahntem Maß zur Durchleuchtung ihrer Privatsphäre gezwungen. Kein Steuerpflichtiger muss dem Finanzamt gegenüber so viele Informationen über sich offenlegen, wie ein Hartz IV-Bezieher an Darlegungen präsentieren und sich an Kontrolle gefallen lassen muss.

Stellen wir uns einmal vor, es würden in gleichem Maß Steuerprüfer eingestellt, wie mit Hartz-IV-Prüfern das System der Leistungskürzung für die Menschen „perfektioniert“ wurde. Die Annahme dürfte kaum zu optimistisch sein, dass wenn wir so viel Steuerprüfung vornehmen würden, wir auch genügend Steuereinnahmen hätten, um Menschen tatsächlich zu fördern und nicht nur zu fordern. Mit den Hartz-Regelungen wurde der Gordische Knoten eben nicht durchschlagen. Stattdessen haben Fordern und Fördern jetzt einen bitteren Beigeschmack, denn das Fordern haben Hunderttausende kennengelernt und auf das Fördern warten ebenso viele seitdem.

Wenn die soziale Marktwirtschaft wirklich sozial sein soll, brauchen wir Leitplanken, mit denen die Wirtschaft in einer offenen Gesellschaft so organisiert wird, dass der Markt nicht die Menschen ruiniert, die die Leistungen einer Gesellschaft erbringen. Wer also glaubwürdig Armut bekämpfen will und die Diskriminierung von Sozialleistung beenden will, muss die ganze Hydra bekämpfen und nicht dauernd für neue Köpfe sorgen. Ein klarer Rechtsanspruch auf einen Mindestlohn von 10 Euro als untere Schwelle gehört ebenso dazu wie ein Recht auf Verbandsklage für Gewerkschaften, wenn es um tarifvertragliche Regelungsmomente geht und ganze Dienstleistungssektoren tariffrei geräumt wurden. Die Mitbestimmung im betrieblichen Bereich muss ausgebaut werden. Zur Armutsbekämpfung ist auch eine moderne Bürgerversicherung notwendig, mit der dafür Sorge getragen wird, dass das biblische Wort „einer trage des anderen Last“ auch wirklich wieder in der Sozialversicherung umgesetzt wird. Die Sonderversorgungen für Beamte, Politiker, Freiberufler müssen endlich zugunsten einer gemeinsamen Rentenversicherung und eines gemeinsamen Sozialversicherungssystems zusammengefasst werden. Dies sind nur einige Ansatzpunkte, mit denen DIE LINKE ein Gesamtkonzept zur gesellschaftlichen Erneuerung verfolgt. In diesem Sinne würde ich mir kraftvollere Prozesse im Bundesrat und im Bundestag wünschen, um der Hydra der Armut tatsächlich den Garaus zu machen.