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Neue deutsche Arbeitswelt

Periodika,

Immer mehr Menschen sind in Arbeit, doch glücklich sind viele trotzdem nicht. Wer das verstehen will, muss in die Arbeitswelt von Leih-, Industriearbeitern und Callcenterbeschäftigten eintauchen.

Seit Monaten preist die Bundesregierung ihr Jobwunder. Anfang des Jahres ließ sie sogar Jubelplakate aufhängen. „Danke, Deutschland. So viele Menschen in Arbeit wie nie zuvor.“

Aber viele, die Arbeit haben, feiern nicht. Birgit Beine ist so ein Mensch. Sie arbeitet in einem Callcenter. Will die 53-Jährige auf die Toilette gehen, muss sie das bei ihrem Vorgesetzten beantragen. Auf Erlaubnis wartet sie bis zu zwanzig Minuten.

Birgit Beine arbeitet in einem Callcenter der Sparkassen in Halle, der S Direkt-Marketing GmbH & Co. KG. Ihr Arbeitsplatz ist circa drei Quadratmeter groß, sie sitzt in einer Art Box, die Kolleginnen sind nur einen Meter entfernt, mehr als 150 in einem Raum. „Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal“, sagt sie. Vor allem Hitze und schlechte Luft machen zu schaffen.

Birgit Beine arbeitet dort seit viereinhalb Jahren. Für sechs Stunden am Tag erhält sie 760 Euro netto im Monat. Das reicht der alleinerziehenden Mutter und ihren beiden Kindern nicht zum Leben. Sie muss zusätzlich Hartz IV beantragen.

So wie Birgit Beine ergeht es in Deutschland mittlerweile mehr als 1,3 Millionen Menschen. Sie arbeiten, und trotzdem müssen sie Hartz-IV-Leistungen beziehen.

Solche Zustände möglich gemacht haben die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung in den Jahren 2003 und 2004. Bis dahin eher randständige Phänomene wie Minijobs und Leiharbeit mutierten zu einer Perspektive für Millionen.

Stefan Gundlach (53) aus Bochum hat das kennengelernt. Mehr als zwei Jahre lang war er Leiharbeiter. Oft arbeitete er für die Hälfte des Lohns der Kollegen, in deren Betriebe ihn seine Firma verlieh. 6,90 Euro bekam der gelernte Klempner und Steinsetzer.

Leiharbeit sei für ihn ein Kulturschock gewesen. Er sei nur ein moderner Arbeitssklave ohne Rechte gewesen, mit dem Unternehmer ihren Profit steigern und Belegschaften zerstören konnten.

Die Gesetze bieten immer eine Lücke. Beispiel Leiharbeit: Kaum war im Jahr 2011 mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für Leiharbeit ein kleiner Erfolg erreicht, wurde der nächste Lohndumping-Hit geboren: Werkverträge.

Der Trick: Firmen übertragen bisher von ihren Mitarbeitern erbrachte Tätigkeiten an Fremdfirmen oder Subunternehmen und zahlen einen Festpreis pro erbrachter Leistung – Lohndumping inklusive. Die einst im Handwerk üblichen Vertragsverhältnisse kommen mittlerweile immer häufiger in Industrie und Handel zum Einsatz.

Wie die neue Arbeitswelt wirkt, offenbart die Insel der Glückseligen. So nennt der Betriebsrat Andreas Krause (52) scherzhaft die Umgebung, in der er arbeitet: das Mercedes-Benz-Werk in Berlin. Unter Arbeitern hat es einen guten Ruf, der Verdienst ist gut, und es gibt betriebliche Vereinbarungen, von denen andere nur träumen.

Aber die Insel der Glückseligen verliert beständig an Boden. Leiharbeit, Werkverträge, Outsourcing, Standortkonkurrenz fressen sich in sie hinein.

Noch vor Jahren waren selbst die Köche in dem Berliner Werk bei Mercedes direkt angestellt, jetzt gehören nicht mal mehr die Werkshallen dem Unternehmen. Mehr als 1000 Leute wurden in den letzten zehn Jahren in der Fabrik abgebaut. Jetzt stehen an der Produktionsstrecke auch Leiharbeiter, die für erheblich weniger Geld das Gleiche tun.

Aber auch die neuen Mittel der Arbeitsverdichtung erhöhen den Druck bei den Festangestellten. Auf Schautafeln sehen sie, was jede einzelne Schicht leistet. Stimmen die Zahlen nicht, rufen die Vorgesetzten zum Gespräch.

Arbeitsverdichtung ist auch für viele Pflegekräfte in der Berliner Charité ein Thema. Dana Lützkendorf (35) arbeitet dort als Intensivpflegerin. Während die Patientenzahlen stiegen, wurden Stellen abgebaut. In vielen Abteilungen in der Klinik entsteht deswegen eine bedenkliche Dynamik. Die Kollegen wissen: Bleibe ich bei Krankheit zu Hause, müssen die anderen das machen. Die Erfahrung lehrt, dass dem oft die Erkrankung der anderen folgt.

Die Arbeitgeber können sich auch auf etwas anderes verlassen. „Man will alles für die Patienten geben, holt alles aus sich heraus“, sagt Dana Lützkendorf, aber das habe Grenzen. Ein innerer Konflikt entsteht, den jeder mit sich selbst ausmachen muss.

Dana Lützkendorf hat ihn selbst gespürt, fand irgendwann einen Ausweg. „Ich kämpfe jetzt für bessere Arbeitsbedingungen“, sagt sie. Beim großen Charité-Streik im vorigen Jahr ging sie in die Streikleitung und ist in der Gewerkschaft aktiv. Seitdem gehe es ihr besser. „Man muss sich halt wehren.“

Der Leiharbeiter Stefan Gundlach hat dies auch irgendwann getan. Er und zahlreiche seiner Leiharbeitskollegen klagten erfolgreich Lohnnachzahlungen ein.

Die Callcenterbeschäftigte Birgit Beine hat vor wenigen Wochen zusammen mit hundert anderen Beschäftigten ihres Callcenters den bisher längsten Streik in der Geschichte dieser Branche organisiert.