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Mehr Solidarität, mehr Europa!

Interview der Woche,

Thomas Händel, Mitglied der Fraktion GUE/NGL und Ko-Sprecher der Delegation der Partei DIE LINKE. im Europäischen Parlament, und Cornelia Ernst, Mitglied der Fraktion GUE/NGL und Ko-Sprecherin der Delegation der Partei DIE LINKE. im Europäischen Parlament


DIE LINKE kämpft für soziale Gerechtigkeit in Deutschland und Europa. Nach Jahren der Eurokrise und damit einhergehenden Kürzungsdiktaten – wo steht Europa heute?

Thomas Händel: Meines Erachtens entfernen wir uns von ihm immer mehr vom Ziel eines sozialen Europas. Die Arbeitslosigkeit steigt in der EU ständig an. Nicht einmal die Hälfte der Beschäftigten hat eine unbefristete und tariflich entlohnte Arbeit. Die Prekarität frisst sich durch die Gesellschaften in Europa wie ein Krebsgeschwür. Mehr als ein Viertel der Menschen in Europa, 125 Millionen Menschen, leben in Armut oder sind armutsgefährdet.

In vielen Ländern Europas haben rechte, nationalistische Bewegungen Zulauf. Wie gefährdet ist die Europäische Idee und warum fehlt ihr derzeit die Attraktivität?

Cornelia Ernst: In den fünf Jahren im Europaparlament habe ich Tausende E-Mails bekommen, in denen die Menschen mir geschrieben haben, was sie von der EU erwarten. Es sind vor allem drei Punkte, die immer wieder vorkamen. Erstens, dass die EU die Krise in den Griff bekommt bzw dass es überall ausreichende und vernünftig bezahlte Arbeitsplätze gibt, zweitens, dass die EU die Grundrechte aller Menschen in Europa, einschließlich der Migranten effektiv schützt und drittens, dass über die Regionalpolitik die Wirtschaft und Infrastruktur in den Regionen sinnvoll gefördert wird. Die Krise ist aber noch immer nicht beendet, die NSA spioniert weiter und der EU-Haushalt wurde zum ersten Mal seit Bestehen der EU gekürzt. Das Problem mit der Attraktivität ist, dass die EU eben nicht geliefert hat. Vieles davon geht übrigens auf Rechnung der Regierungen, auf die von Merkel, Cameron und Hollande.

Vor allem die Konservativen brauchen sich auch nicht wundern, wenn jetzt chauvinistische und nationalistische Parteien Zulauf gewinnen. Sie haben jahrelang die Stimmung angeheizt, denken Sie nur an die Debatte um den angeblichen Sozialhilfetourismus.

In Südeuropa ist die Arbeitslosigkeit hoch, die Jugendarbeitslosigkeit sogar brisant. In Deutschland arbeiten acht Millionen Menschen für einen Niedriglohn, aber Deutschland gilt als wettbewerbsfähig. Wird Deutschland zum Modell für ganz Europa?

Thomas Händel: Die Politik der deutschen Regierungen seit 1998 kann für vieles herhalten, als Vorbild jedoch auf keinen Fall: In dem sehr reichen Deutschland gibt es den größten Niedriglohn-Sektor aller Industrieländer und die tiefste Spaltung zwischen Armen und Reichen in Europa. Jüngst bestätigte das eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die DIW-Forscher sagen: "Nirgendwo in der Eurozone sind die Vermögen ungleicher verteilt als in Deutschland." Neu ergab diese Untersuchung: Die Arbeitslosen in Deutschland verfügten im Jahr 2002 noch über ein Durchschnittsvermögen von 30 000 Euro. Im Jahr 2012 waren es nur noch 18 000 Euro – eine direkte Folge der Hartz-Gesetze, welche die Arbeitslosen zwingen, erst ihr Vermögen aufzubrauchen; so haben fast zwei Drittel aller Arbeitslosen gar kein Vermögen oder sogar Schulden. Das ist das Ergebnis der Agenda-Politik à la Schröder und Merkel. Das heißt, Deutschland ist Spitze als Export-Weltmeister und Spitze in sozialer Ungerechtigkeit.

Wie ginge es anders?

Thomas Händel: Mein Europa richtet sich an einem Gesellschaftsvertrag aus, der auf mehreren Säulen ruht: Die Menschen sind in Fragen ihrer sozialen Existenz gesichert und niemand wird ausgeschlossen. Starke öffentliche Infrastrukturen garantieren freie Bildung für alle, eine leistungsfähige Versorgung bei Krankheit und im Alter. Und die ärmeren Regionen sollen unterstützt werden, sich den Lebensstandards der erfolgreichen Regionen anzunähern, ohne diese wiederum zu überfordern. Ich bin davon überzeugt: Mit einem Mehr an Europa und mit einem Mehr an Solidarität zwischen den Völkern in Europa verschaffen wir uns die Option auf das bessere Zukünftige.

Trotz der Enthüllungen von Edward Snowden geht die Überwachung weiter. Grundrechte der Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland und Europa werden im großen Stil verletzt. Die herrschende Politik scheint’s kaum zu stören. Wie sehen Sie die Situation?

Cornelia Ernst: Ich glaube, dass viele Menschen die Größenordnung dessen, was Edward Snowden enthüllt hat, noch immer nicht erfasst haben. Wir haben es mit einer umfassenden Überwachungsmaschinerie zu tun, in die unglaublich viele Ressourcen investiert wurden und werden und die über den ungehinderten Datenaustausch der Geheimdienste funktioniert. Das ist so noch nicht da gewesen.

Ein ebenso großer Skandal ist die Untätigkeit der Regierungen. Entweder haben sie die Kontrolle über die Dienste verloren oder sie decken deren Tun. Im ersten Fall haben wir es mit so etwas wie einem "tiefen Staat" zu tun, in dem unkontrollierte Institutionen die Demokratie bedrohen. Im zweiten Fall sind es die Regierungen, die versuchen, die Gesellschaft zu kontrollieren. Aber umfassende Überwachung und Kontrolle sind mit Demokratie und Freiheit unvereinbar.

Was wir brauchen, ist eine vollständige Revision des gesamten Sicherheitsapparates, nicht nur der Geheimdienste. Alle Überwachung und Datensammlung, die pauschal und auf Vorrat ausgelegt ist und nichts mit tatsächlichen Verbrechen zu tun hat, muss aufhören.

DIE LINKE fordert Asyl für Snowden, ja sogar den Friedensnobelpreis. Allerdings ist kein EU-Staat bislang bereit, ihm Asyl zu gewähren. Wie kann Snowden derzeit geholfen werden?

Cornelia Ernst: Im Europaparlament haben wir Snowden, wenn auch schriftlich, genau diese Frage gestellt. Seine Antwort war sinngemäß, dass wir seine Enthüllungen aufgreifen sollen, die notwendige Debatte über die innere Sicherheit führen sollen und die Überwachung auf das notwendige begrenzen sollen. Genau daran arbeite ich für die LINKE seit den ersten Enthüllungen im Juli/August letzten Jahres.

Dennoch müssen wir die Forderung nach Asyl in Deutschland auf der Tagesordnung halten. Ich weiß nicht, ob er ewig in Russland bleiben kann und seine Aussagen, dass er weiterhin aktiv nach Asyl in diversen Ländern sucht, belegen das. Offensichtlich kann er auch nur sehr eingeschränkt öffentlich reden. Deshalb wäre es enorm wichtig, wenn er nach Berlin kommen könnte, um dort im Bundestag auszusagen. Dort könnte er sicherlich Dinge sagen, mit denen er sich im Augenblick noch in Gefahr bringen würde.

EU und USA verhandeln über ein Freihandelsabkommen. Was haben Sie eigentlich gegen Freihandel?

Thomas Händel: Freihandelsabkommen. Das kommt so harmlos daher, dass sogar viele Betriebsräte und Gewerkschafter hoffen: da kann mein Unternehmen Geld in den USA verdienen und damit schaffen wir hier mehr Arbeitsplätze. Das TTIP, die Transatlantic Trade and Investment Partnership, soll den Handel zwischen den Unternehmen in den USA und der EU ohne Schranken möglich machen. Ich sage Ihnen nun, was ich befürchte. Mit diesem Abkommen kann das Kapital, können vor allem die großen Unternehmen diesseits und jenseits des Atlantik ohne nennenswerte Hürden und damit ohne Hemmungen produzieren und Handel treiben. Das Kapital will sich in Europa und den USA wie ein Fisch im Wasser bewegen. Nach der Devise: Nichts ist ausgeschlossen, alles wird möglich: Coca Cola liefert künftig das Trinkwasser, vermutlich in der bewährten braunen Qualität. Die bewährte bayerische Schweinshaxe gibt es verchlort bei McDonalds. Noch mehr öffentliche Güter und Dienstleistungen wie Energie, Abfallentsorgung, Bahn, Bildungs- und Gesundheitswesen, eventuell sogar die Rentenversicherung, werden komplett privatisiert.

Um den sogenannten Investorenschutz wird hart gerungen. Das Europaparlament hat aber vor wenigen Wochen eine Verordnung für Klagen von Investoren durchgewunken. Ist damit ein zentraler Pfeiler des TTIP bereits abgesegnet? Und was stört DIE LINKE am Investorenschutz?

Thomas Händel: Stellen wir uns einmal vor, es gibt im Jahr 2017 eine rot-rot-grüne Bundesregierung. Die führt die paritätische Mitbestimmung ein. Dann hätten wir nach diesem Freihandelsabkommen folgende Konstellation: Auf Grundlage des sogenannten Streitbeilegungsverfahren könnten Konzerne die Bundesregierung vor einer Kammer verklagen. Diese Kammer ist mit ausgesuchten Wirtschaftsexperten besetzt, außerhalb der normalen Gerichtsbarkeit angesiedelt und es gibt keine Revisionsinstanz. Die Konzerne könnten vor dieser Instanz mit dem Argument klagen: Wir wollen Entschädigung, denn diese Mitbestimmung schmälert unseren Gewinn. Das ist kein Traum, kein Scherz, sondern nahende Wirklichkeit. Denn es gibt bereits ein ähnliches und beinahe fertig verhandeltes Abkommen mit Kanada, das eine ähnliche Reglung vorsieht.

Der Europäische Gerichtshof hat die bestehende EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung Anfang April gekippt. In Deutschland möchten CDU/CSU und SPD die Vorratsdatenspeicherung laut Koalitionsvertrag wiedereinführen. Welchen Kurs erhoffen Sie sich vom Europäischen Parlament?

Cornelia Ernst: Bereits in den vergangenen fünf Jahren habe ich im Europaparlament gegen die Vorratsdatenspeicherung gekämpft und der Innenausschuss hat in den vergangenen Jahren insgesamt eine sehr kritische Position bezogen. Aber viele Abstimmungen zum Thema Überwachung konnten wir mal knapp gewinnen, mal knapp verlieren. In der Endabstimmung im Plenum haben sich dann aber oft die Konservativen durchgesetzt.

Deshalb brauchen wir vor allem viele linke Abgeordnete und ich hoffe, dass auch die Überwachungsgegner in den anderen Parteien stärker werden. Denn dann haben wir die Voraussetzung, um stabile Mehrheiten gegen alle Formen der Überwachung zu schaffen.

Tag für Tag vollziehen sich Dramen an den Grenzen der EU. Flüchtlinge sterben bei dem Versuch, Europa zu erreichen. Wie kann das verhindert werden, wie mit Flüchtlingen umgehen, ohne die Gesellschaften in Europa zu überfordern?

Cornelia Ernst: Die Überforderung der Gesellschaften in Europa ist, sofern vorhanden, vor allem ein hausgemachtes Problem. Ich will die Behörden aus Griechenland, Malta, Italien und anderen gar nicht in Schutz nehmen. Vieles was heute auf dem Mittelmeer geschieht ist absolut inakzeptabel, Recht und Gesetz wird nicht eingehalten. Aber das Dublin-System legt fest, dass die Länder für Asylanträge zuständig sind, wo sie den ersten Kontakt mit Behörden hatten. Das ist eine völlig unverhältnismäßige Belastung für Länder wie Griechenland, Malta oder Zypern, denn die meisten Asylsuchenden wollen gar nicht dorthin, sondern oft nur vage "nach Europa". "Dublin" abzuschaffen würde nicht die Migration stoppen, aber die Menschen würden sich besser verteilen. Die anderen Probleme drehen sich oft um die Erstaufnahme und um die Integration vor Ort.

Für die Erstaufnahme fordern wir in der Linksfraktion im Europaparlament schon seit Jahren, dass niederschwellige, offene und freiwillige Aufnahmezentren an den Hot Spots an den Küsten eingerichtet werden, wo Menschen vorläufig Obdach, medizinische, soziale und juristische Hilfe bekommen können. Für die Lage vor Ort ist für uns klar, dass die Kommunen die notwendigen Finanzen zur Verfügung haben müssen und natürlich auch zusätzliches kompetentes und geschultes Personal einstellen können.


linksfraktion.de, 13. Mai 2014