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Löschen heißt die Vernunft

Im Wortlaut,

Koalition kippte Zugangserschwerungsgesetz zur Internetsperre

Von René Heilig

Wohl die meisten Bundesbürger orientierten sich gerade aufs Schlafen, da teilte die Bundesjustizministerin allen, die ihr bei Twitter folgen, mit: »Die endgültige Absage an eine Internet-Sperrinfrastruktur durch den Koalitionsausschuss heute Abend ist ein Sieg der Vernunft.« Minuten später kommentierte die Internetspezialistin der Bundestags-Linken Halina Wawzyniak: »Wenn's stimmt – ein versöhnlicher Ausklang des Tages.«

Es stimmte. Die Union hatte den zahlreichen Protestlern, die eine schleichende Zensur des Internet befürchteten, nachgegeben und sich von den umstrittenen Sperren für Kinderpornos im Netz verabschiedet. Das entsprechende Gesetz war in der Vorgängerregierung maßgeblich von der damaligen Familien- und jetzigen Arbeitsministerin »Zensursula« von der Leyen (CDU) initiiert worden. Union und FDP hatten aber im Koalitionsvertrag 2009 vereinbart, die Sperren zunächst nicht anzuwenden und ein Jahr lang zu erproben, ob Löschen nicht der bessere Weg zur Bekämpfung der kriminellen Abscheulichkeit sei.

Nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) hat die Verbreitung von Kinderpornografie seit dem Jahr 2000 stark zugenommen. 2008 gab es laut Kriminalstatistik 2755 Straftaten in diesem Bereich. Weit mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2000. Die zunehmende Verbreitung solcher Seiten hängt ganz offenbar damit zusammen, dass immer mehr Menschen das Internet nutzen. 6705 Personen rückten 2008 wegen des Besitzes von Kinderpornografie als Tatverdächtige in das Visier der Fahnder. Die Verdächtigen waren zu 93,2 Prozent männlich und zu 92,9 Prozent älter als 21 Jahre.

Nun kann alles rasch gehen, sagt Wawzyniak. »Die Regierungskoalition muss ein Gesetz einbringen, mit dem das Zugangserschwerungsgesetz aufgehoben wird. Die Oppositionsfraktionen haben dazu bereits etwas vorgelegt, hier darf die Koalition gerne abschreiben.«

Das war's? Auf ihrer fast schon euphorisch zu nennenden Siegeswelle verkündete FDP-Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gleichfalls in der Nacht zum Mittwoch: »Die Korrektur von innen- und rechtspolitischen Fehlentscheidungen der Vergangenheit wird fortgesetzt.«

Große Worte – dabei wissen wir noch nicht einmal, womit sich die Union ihren Rückzug vergüten lässt. Beobachter spekulieren – nicht sehr glaubhaft –, dass es die gelbe Zustimmung zur Visa-Datei war. Die ist ohnehin in der Koalitionsvereinbarung verankert. Ist der Union vielleicht ein liberales Entgegenkommen bei der Vorratsdatenspeicherung avisiert worden? Der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) lässt sich dabei von seiner Kabinettskollegin Leutheusser-Schnarrenberger nicht beirren. Er tarnt sich – wie der Wolf im Märchen – und spricht mit Kreidestimme nur noch von »Mindestdatenspeicherung«. Die soll, so sagt er mit Verweis auf die EU, sechs Monate betragen.

Oder läuft der schwarz-gelbe Deal auf die Verlängerung der im Zuge des Anschlags vom 11. September 2001 erlassenen Antiterror-Gesetze hinaus? Bis Mai will Hardliner Friedrich einen Vorschlag machen. Obwohl »in keiner Weise belegt ist, was die Gesetze an Sicherheitsgewinn gebracht haben« und »ob die massive Beschneidung von Bürgerrechten verhältnismäßig ist«, kritisiert der Innenexperte der Bundestags-Linksfraktion Jan Korte.
Mal sehen, was Leutheusser-Schnarrenberger dann twittert.

Neues Deutschland, 7. April 2011