Zum Hauptinhalt springen

»Jede und jeder ist fähig, kreativ zu sein«

Interview der Woche von Ilja Seifert,

Ilja Seifert, behindertenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Konferenz "Gute Arbeit - unbehindert!", Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung und ihre Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt



Am 30. März findet in Berlin eine Konferenz mit dem Titel "Gute Arbeit – unbehindert!" statt. Worum geht es?


Ilja Seifert: Es geht um gleiche und reale Chancen am Arbeitsleben teilzuhaben. Es geht um Chancen für Menschen mit und ohne Behinderungen gut zu arbeiten und gut zu leben. Gute Arbeit macht nicht krank und nicht arm. Gute Arbeit macht selbstbewusst. Es geht um die reale Freiheit, von staatlichen Alimenten unabhängig zu sein. Darum, sich selbst Erfolgserlebnisse  organisieren zu können, soziale Kontakte zu gestalten, in festen Tages- und Wochenstrukturen Sicherheit zu finden. 



Wer nimmt an der Konferenz teil?
  Angemeldet haben sich mehr als 130 Interessierte: aus Wissenschaft und Verwaltung, viele Betroffene mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Darunter sind Werkstattbeschäftigte, Menschen, die von Erwerbsminderungsrente leben, Arbeitslose mit Behinderungen. Wir erwarten Betriebsräte und Schwerbehindertenvertretungen, Frauenbeauftragte und erfahrene Vertreter und Vertreterinnen aus Behindertenverbänden. Das freut uns deshalb, weil die Fraktion mit dieser Konferenz einen Antrag öffentlich zur Diskussion stellt, der anlässlich des Europäischen Protesttages für Menschen mit Behinderungen am 5. Mai ins Parlament eingebracht werden soll. 

Im Laufe des Tages soll es auch um die Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung gehen.

Wo sehen Sie dabei gegenwärtig die größten Probleme?


Es gibt zu wenig sichere Räume für selbst organisierte Interessenvertretung - weit über die Arbeitswelt hinaus. Betroffene Verbände können nicht verantwortlich mitentscheiden. Das zeigt die Diskussion um ein Verbandsklagerecht. Bestehende Regelungen der Mitwirkung sind zu schwach. Darüber diskutieren vor allem betriebliche Interessenvertreter und Werkstatträte. Einerseits hören wir immer wieder, wie schwierig es ist, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Andererseits bleibt ihr Sachverstand ungenutzt oder wirkungslos. Wir wollen das ändern.   Wie kann Abhilfe geschaffen werden?

Durch echte Mitbestimmung: Im Gesundheitsbereich nennt man das informed consent, informierte Einwilligung. Einwilligen kann ich nur in Festlegungen, die ich verstehe und die mich deshalb motivieren. Verstehen kann ich durch Qualifizierung. Alle Informationen müssen barrierefrei sein: also zugänglich, verständlich und diskutierbar.



Was erwarten Sie in diesem Kontext von der Konferenz?
Zunächst lebendigen Austausch: von Erfahrungen, von Vorschlägen und Forderungen. Wir setzen auf die Klugheit der betroffenen Menschen. Wir hoffen, sie gewinnen Selbstbewusstsein und Argumente. Wir werden den Antragsentwurf nach der Konferenz überarbeiten, unsere Forderungen an die Bundesregierung schärfen und unsere Vorschläge verbessern. Wir hoffen, dass in der angeblich nicht-behinderten Welt Menschen mit Handicap in ihren Potenzialen besser wahrgenommen werden. Deshalb wird es eine LIVE-Sendung bei Slang-Radio, einem Internetsender für Menschen mit und ohne Behinderung geben.
   Gute Arbeit ist ein zentrales Anliegen der LINKEN. Der Arbeitsmarkt sieht in der Realität oft anders aus. Was bedeutet das für Menschen mit Behinderungen?

Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen ist doppelt so hoch wie für Menschen ohne Handicap. Zwei Drittel der arbeitslosen Menschen mit Beeinträchtigungen werden in Jobcentern betreut. Mehr als 30.000 Unternehmen beschäftigen gar keine Mitarbeiter mit Behinderungen. Diese Ausgrenzung diskriminiert. Das wollen wir überwinden. Jedoch nicht auf dem entwürdigenden Niveau prekärer Beschäftigung.

  Inklusion ist ein wichtiger Begriff der UN-Behindertenrechtskonvention und des Antragsentwurfs der Fraktion – was ist mit Inklusion gemeint?

Der Begriff Inklusion wird inzwischen so inflationär benutzt, dass er schon wieder entwertet wird. Was ich darunter verstehe, ist eine Lebensweise, die vor allem die Möglichkeiten eines Menschen und nicht seinen Mangel sieht. Jede und jeder ist fähig, kreativ zu sein, etwas hervorzubringen. Wir wollen eine Wirtschaft, die Arbeit von den Fähigkeiten her denkt und organisiert. Das betrifft alle Menschen, nicht nur die mit Behinderungen. Es geht um eine Gesellschaft, die Vielfalt und Anderssein als Chance und Gewinn erlebt. Nicht mehr und nicht weniger.



Wie muss aus Ihrer Sicht ein Arbeitmarkt gestaltet werden, damit Menschen mit Behinderungen darin einen Platz finden können?
Die Arbeitswelt muss inklusiv werden. Noch einmal: Nicht nur für Menschen mit Behinderungen geht es um eine existenzielle Umkehrung: Arbeitsplätze müssen sich nach den Menschen richten – nicht die Menschen nach dem optimalen Nutzen der Arbeitsplätze. Was eigentlich ist eine "Minderleistung"? Woran wird das gemessen? Menschen müssen scheitern dürfen, ohne ins Nichts zu stürzen. Voraussetzung für gute Arbeit ist auch Barrierefreiheit: Zugänglich – verständlich – gestaltbar muss die Umwelt sein. In diese Richtung muss sich die Gesellschaft verändern.


linksfraktion.de, 27. März 2012