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Foto: Rico Prauss

»In der Pandemie brüllte alles nach dem Staat«

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Magdeburger Volksstimme,

Linken-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch über Reformbedarf bei Gesundheit und Steuern und mangelnde Ost-Präsenz in Regierungen

Die Linkspartei will bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt unter die ersten drei kommen, be-kräftigt Dietmar Bartsch, Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, im Volksstimme-Interview. Mit ihm sprachen Alois Kösters und Steffen Honig.

 

Volksstimme: Die Pandemie hat der Linken-Forderung nach einer Verstaatlichung von Krankenhäusern einen Schub gegeben. Wie bei der Daseinsvorsorge insgesamt sind Sie dabei kompromisslos. Warum?
Dietmar Bartsch:
Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Aber die Pandemie hat gewaltige Defizite aufgezeigt. Zu wenig Pflegepersonal, das zu schlecht bezahlt wird. Stress dominiert den Alltag. Deshalb fordert die Linke in Sachsen-Anhalt, eine Landesgesellschaft zu gründen. Wir wollen den Wahn beenden, dass Krankenhäuser so arbeiten müssen, dass eine möglichst große schwarze Zahl unten steht, und nicht die Behandlung der Patienten ganz oben steht. Für mich ist das keine kompromisslose Forderung, sondern eine, die aufgemacht werden muss, weil sie im Interesse der Patienten und des Pflegepersonals liegt.

Aber dann müsste doch der gesamte Gesundheitsbereich reformiert werden und nicht nur ein Sektor.
Sie haben recht, wir brauchen einen großen Wurf auf diesem Feld. Die Prämisse für uns ist: Die Gesundheit der Menschen muss aus marktwirtschaftlicher Logik raus! Gesundheit ist nicht für Profite da. Das beginnt mit der Arzneimittelzulassung, die in Deutschland in einem scheintransparenten Verfahren erfolgt. Es setzt sich fort bei der Bezahlung der Pflegekräfte, der Ärztinnen und Ärzte, der Krankenschwestern in den Krankenhäusern. Eine zentrale Frage ist: Wollen wir das Fallpauschalen-System erhalten?

Wollen Sie es erhalten?
Ausdrücklich nein. Das jetzige System hat sich nicht bewährt. Warum wohl gibt es so viele neue Knie- oder Hüftgelenke in Deutschland? Nicht alle Entscheidungen könnten nur medizinisch begründet sein.

Wo soll das Geld gerade bei kommunalen Krankenhäusern herkommen?
Die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens ist das eigentliche Problem. Hier gibt es einen riesigen Reformbedarf. Die Finanzierung kann man aber nicht den Kommunen aufhalsen. Das ist Landeshoheit und kostet natürlich Geld. Die Leistungen dürfen nicht schlechter, sondern sollen besser werden. Aber dies kostet die Gesellschaft etwas. Und ja, das Geld ist auch da. In der Pandemie brüllte alles nach dem Staat. Auf einmal wurde die Lufthansa mit Milliarden gerettet. Da kann es nicht sein, dass nach der Pandemie an der Versorgung der Menschen gespart wird. Linke Position bleibt: Krankheiten müssen nach den Symptomen behandelt werden und nicht nach dem Geldbeutel.

Auch beim Mindestlohn geht die Linkspartei voran: Mit einer 13-Euro-Forderung stehen Sie an der Spitze. Allerdings ist die Forderung wenig realistisch.
Dass es überhaupt einen Mindestlohn gibt, ist ein Erfolg, den es ohne uns nicht geben würde. Alle Bedenken, die uns entgegenschallten, sind nicht eingetreten. Es wurden keine Jobs vernichtet. Aber der Mindestlohn liegt immer noch unter zehn Euro und ist viel zu niedrig. Jetzt geht es um einen einmaligen Schritt, der den Mindestlohn spürbar anhebt. Denn: Leistung im Job muss sich auszahlen! Niedriglöhne sind Ausbeutung, für die wir alle teuer bezahlen, weil mit Milliarden Steuergeld, Dumping-Löhne und Mini-Renten aufgestockt werden müssen. Dieses System ist respektlos und teuer und gehört beendet.

Wenn Sie aber für die 30-Stunden-Woche eintreten, landen viele wieder unter Grundsicherungsniveau.
Ein höherer Mindestlohn wäre gerade dabei Voraussetzung. Die Arbeitszeitverkürzung korrespondiert mit gewerkschaftlichen Forderungen. Es hat etwas mit der Entwicklung der Gesellschaft zu tun. Nicht wenige Verträge gehen schon in Richtung 30 Stunden. Wir brauchen aber keinen Wettlauf, sondern zunächst mal gut bezahlte und sichere Jobs für alle. Wir wollen vor allem keine Verlängerung der Arbeitszeit ins Unermessliche. Die heutige Zahl der Überstunden ist doch Wahnsinn.

Die Linke lag 2016 bei der Wahl in Sachsen-Anhalt noch über 16 Prozent, jetzt sagen Umfragen 12-13 Prozent voraus. Woran liegt das trotz aktiver Oppositionspolitik?
Unsere Umfragewerte hier haben stark mit dem Bundestrend zu tun. Allerdings klaffen Umfragen und reale Ergebnisse häufig weit auseinander. Schauen Sie sich die Umfragen und die Ergebnisse in Sachsen-Anhalt vor fünf Jahren an. Wir werden am Sonntag ein deutlich besseres Ergebnis haben als jetzt vorhergesagt.

Die Landespartei hat mit der Plakatlosung „Nehmt den Wessis das Kommando“ für Furore gesorgt. Soll es Populismus à la 90er Jahre richten?
Ich widerspreche deutlich, was den Populismus betrifft. Es gibt im Wahlkampf nur ein Plakat einer Partei, was überhaupt eine relevante Rolle spielt. Weil es ein Volltreffer ist. So dramatisch wie in Sachsen-Anhalt ist die Benachteiligung der Ostdeutschen in kaum einem anderen Bundesland. Immer noch gibt es für gleiche Arbeit weniger Lohn als im Westen – und daraus folgend niedrigere Renten. Das ist eine Missachtung der Menschen. Die spiegelt sich auch in der Besetzung der Magdeburger Landesregierung wider – in der sage und schreibe nur zwei ostdeutsche Minister sitzen. Das finde ich skandalös! Jetzt regen sich manche auf, dass wir diesen Missstand klar benennen und ihnen den Spiegel vorhalten.

Gilt Ramelow in Ihrer Partei als Ossi oder Wessi?
Er ist ein Wessi, natürlich. Aber unser Thüringer Ministerpräsident hat in seiner Regierung deutlich mehr Ossis als Haseloff. Das Plakat ist nicht gegen Wessis gerichtet, sondern dagegen, dass bei gleicher Qualifikation unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, die Ostdeutsche benachteiligen.

Aber ist das nicht das Pfeifen im Wald? Wie wollen Sie das verändern?
Sollten wir auf der Bundesebene mitregieren, werden, anders als jetzt, immer ostdeutsche Minister im Kabinett sein. Ich glaube nicht, dass ohne deutliches Benennen der Probleme die Entwicklung besser wird. Deshalb müssen wir das weiter hörbar tun.

Letztlich wird Protest wiederbelebt, der bei den Linken verloren gegangen ist. Ist die AfD dafür die neue Protestpartei im Osten?
Nein. Das Markenzeichen der AfD in den letzten Jahren war Hetze. In dieser Legislaturperiode sind sechs Abgeordnete aus der Bundestagsfraktion der AfD ausgetreten, meist mit dem Vorwurf danach, das sei eine rechtsradikale Partei. Nichts haben sie für die Menschen im Land bewegt. Auch in Sachsen-Anhalt gab es Fraktionsaustritte. Es tut mir leid: Wählerinnen und Wähler in Sachsen-Anhalt wissen, was für eine Partei sie da wählen würden. Für mich ist das unverständlich und inakzeptabel. Linker Protest dagegen bewirkt etwas für die Menschen, wie beim Mindestlohn bewiesen. Übrigens sind wir schon lange Protest- und Gestaltungspartei.

Die Linke liegt bundesweit in Umfragen bei um die sechs Prozent. Fürchten Sie um die Bundestags-Präsenz?
Nein. Unser realistisches Ziel bleibt ein zweistelliges Ergebnis. Aber natürlich müssen wir kämpfen. Wir hatten pandemiebedingt einen verspäteten Parteitag. Jetzt haben wir ein klares Programm: Der Fokus liegt auf einem starken Sozialstaat, der Leistung belohnt und niemanden in die Armut entlässt. In Sachsen-Anhalt wollen wir aufs Siegertreppchen, also unter die ersten drei.

Sie sind bekannt, Ihre Co-Spitzenkandidatin Janine Wissler ist es schon weniger. Wie kann es sein, dass eine Linken-Größe wie Sahra Wagenknecht da noch von den eigenen Leuten gemobbt wird?
Sahra Wagenknecht steht auf Listenplatz 1 in Nordrhein-Westfalen. Sie ist eine ausdrückliche Unterstützerin der Partei- und Fraktionsführung in Sachsen-Anhalt. Sahra Wagenknecht ist nicht weggemobbt worden, wie die politische Konkurrenz behauptet. Sie ist krankheitsbedingt ein halbes Jahr ausgefallen und konnte dann nicht erneut als Fraktionsvorsitzende kandidieren. Im Wahlkampf wird Sahra Wagenknecht eine wichtige Rolle spielen.

Corona hinterlässt einen Schuldenberg. Wie soll dieser schrumpfen?
Wir haben 450 Milliarden Euro neue Schulden auf der Bundesebene aufgenommen. „Wer bezahlt die Krise?“ ist daher eine zentrale Frage bei der Bundestagswahl. Ich finde unverantwortlich, dass sich die jetzige Regierung um eine Antwort herumdrückt. Wir wollen eine einmalige Vermögensabgabe als ein Finanzierungsinstrument, das nur Multimillionäre und Milliardäre trifft, und wir wollen eine große Steuerreform, die Menschen mit normalen Löhnen spürbar mehr in der Tasche lässt.

Hinzu kommen die Klimakosten.
Wir gehen an die Klimafrage völlig anders als die Grünen heran. Die wollen im Kern einfach höhere Preise. Auf dem flachen Land ist ein hoher Spritpreis aber eine Bedrohung. Ich möchte soziale Ausgewogenheit, etwa durch den Ausbau des Schienennetzes. Der Bus muss fahren. Wir müssen den Klimawandel mit Klimagerechtigkeit bewältigen und nicht dadurch, dass Pendler, Mieter und Normalverdiener die Zeche zahlen für eine Klimapolitik, die dem Klima nicht nützt.

Grün-Rot-Rot nach der Bundestagswahl scheint noch möglich zu sein. Ihre Außenpolitik, besonders die Nato-Frage, wird von SPD und Grünen als größtes Hindernis für eine Koalition gesehen. Was sagen Sie dazu?
Es muss außenpolitisch Veränderungen geben. Dass Deutschland jedes Jahr die Waffenexporte gesteigert hat, obwohl im Koalitionsvertrag etwas anderes steht, finde ich unverantwortlich. Die Linke wird sich aber nicht mit der Bedingung an den Tisch setzen: Die Nato wird sofort aufgelöst. Wir wollen das Bündnis in ein System kollektiver Sicherheit unter Einschluss Russlands umwandeln. Ein neuer Kalter Krieg nützt niemandem.

„Die Linkspartei ist gespalten zwischen dem Westen und romantischen Träumen über Russland.“ Das hat jüngst Joschka Fischer jüngst erklärt. Sie haben einst in der Sowjetunion studiert, wie stehen Sie dazu?
Joschka Fischer ist zu lange aus der Politik raus und versucht, Dinge zu beurteilen, die er nicht mehr beurteilen kann. Ich bin dafür, dass wir zu einem besseren Verhältnis zu Russland kommen. Dazu gehört, dass man kritisch der Politik Putins gegenübersteht. Wir haben die Annexion der Krim als völkerrechtswidrig bezeichnet. Trotzdem ist ein gutes Verhältnis zu Russland enorm wichtig für Europa und für Deutschland. Deswegen finde ich die Stellvertreter-Diskussion um Nord Stream 2, mit der sich insbesondere die Grünen profilieren wollen, daneben. Die Pipeline wird sowieso zu Ende gebaut. Auch die dramatische Situation in Belarus, wo das Agieren Lukaschenkos auf das Schärfste zu verurteilen ist, ist nicht ohne Russland zu lösen.

Magdeburger Volksstimme,