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»Ich, die Zählkandidatin«

Periodika von Lukrezia Jochimsen,

Luc Jochimsen hat für DIE LINKE für das Amt der Bundespräsidentin kandidiert. Für clara. erinnert sie sich an vier aufregende Wochen.

Am Anfang war das Rätsel.


31. Mai 2010. Bundespräsident Köhler gibt seinen Rücktritt bekannt – »mit sofortiger Wirkung«. Die Nachricht erreicht mich im Hotel Neptun in Istrien, auf der früheren Tito-Insel Brioni. Deutsches Fernsehen auch dort, das einen Mann zeigt, der wie verstört wirkt und mich ratlos macht. Warum dieser Entschluss? Warum jetzt? Was soll das bedeuten? Ein Rätsel bis auf den heutigen Tag, gut drei Monate später.

Nach dem Rätsel kam die Hoffnung.


Welch eine Chance für die Politik – für die Kanzlerin. Sie sagt ja immer: »Außergewöhnliche Umstände verlangen außergewöhnliches Handeln.« Wie, wenn sich jetzt Vertreter aller fünf im Bundestag vertretenen Fraktionen um einen großen Tisch zusammensetzten und Namen sammelten – für eine Kandidatur? Am besten einen Kandidaten für alle, und wenn das nicht geht, einen Kandidaten der Regierung und einen der Opposition. Welch schönes Beispiel einer offenen Demokratie könnte das sein!

Nach der Hoffnung kam die Enttäuschung.


Das war natürlich naiv. Drei Tage später gab uns die Kanzlerin ihren Regierungskandidaten bekannt – mit dem schönen Satz: »Christian Wulff wird ein wunderbarer Bundespräsident.« Dann zogen SPD und Grüne ihren Joker: »Joachim Gauck – wir erhoffen, er erhält auch viele bürgerliche Stimmen.« So geht das also, dachte ich, ratz-fatz, partei-strategisch, partei-taktisch, partei-interessen-gesteuert! Und mir war klar, dass ich, Wahlfrau Jochimsen, eine von 1224 Wahlfrauen und Wahlmännern weder Christian Wulff noch Joachim Gauck meine Stimme würde geben können, denn von linker Politik waren beide gleich weit entfernt – aus meiner Sicht waren das Kandidaten von der Rückseite des Mondes.

Nach der Enttäuschung kam der Presse-Tsunami!


Von wegen Rückseite des Mondes! Die veröffentlichenden Meinungsmacher des Landes sahen das ganz anders. Sie riefen das »Duell der Giganten« aus. Im Blätterwald herrschte eine Stimmung wie zu Gladiatoren-Zeiten. Und da hinein sollten wir nun politisch agieren. Das ging nur mit einer eigenen Kandidatur. Das war mir klar. Deshalb fing ich an, über Personen nachzudenken, Frauen vor allem, die sich dem Fraktionsvorstand vorschlagen ließen. Ich hatte auch eine großartige Frau im Sinn, als Parteichefin Gesine Lötzsch am 4. Juni 2010 nachmittags zu mir ins Büro kam.

Mitten im Presse-Tsunami kam der Blitz aus heiterem Himmel.


Gesine hörte sich lächelnd meinen Vorschlag an und sagte dann ganz unvermittelt: »Wir möchten dich fragen, ob du kandidierst.« Blitz. Black-out. Blitz. Ich war überwältigt. Gibt es ein Gefühl von Ehre? Wenn es das gibt, dann hat es mich in diesem Moment erfasst. Und gleichzeitig ein Gefühl der Angst. Wenn ich jetzt ja sage, kann ich die Aufgabe dann bewältigen? In dieser Situation. Die Störerin. Die Lachnummer. Die Chancenlose. Die Zählkandidatin. Die dumme Dritte. »Ergreif deine Chance – du hast keine« – wie oft habe ich diesen Satz höhnisch zitiert, immer wenn es um Frauen und Ämter ging? Im vollen Bewusstsein der Wahrheit dieses Satzes habe ich dann zugesagt. Aus Lust am hoffnungslosen Gegenspiel, das ganz folgenlos ja nie ist, wie die Geschichte uns lehrt.

Nach dem Blitz kam ein Gewitter von 23 Tagen.


Die Fraktionssitzung am 8. Juni 2010 war der Anfang. Soviel Presse wie selten vorm Clara-Zetkin-Saal. Sonderbares Déjà-vu. Früher habe ich selbst in solchen Pulks gestanden und mir Fragen überlegt. Insofern war ich im Vorteil: Ich konnte jetzt die Antworten vorweg denken. Ich kannte das Spiel.

 

Am Abend waren in den Nachrichtensendungen die vielen Frauen zu sehen, die die Parteien stets als aussichtslose Kandidatinnen ins Rennen geschickt haben: Marie Elisabeth Lüders, Annemarie Renger, Luise Rinser, Hildegard Hamm-Brücher, Dagmar Schipanski, Uta Ranke-Heinemann, Gesine Schwan.

 

Keine schlechte Gesellschaft jedenfalls. Und da wir bekanntermaßen alle auf den Schultern anderer stehen, wird eines Tages eine Frau das Amt erreichen – und die Niederlagen vorher waren nicht umsonst. Ich bekomme jetzt Zuschriften zum Aufheben – zum Beispiel:
»Diese Kandidatur ist Ihr größter politischer Fehler.«
»Selbst in BILD hast du heute gute Presse.«
»Manchmal verliert man und manchmal gewinnen die anderen – und das ist nicht dasselbe.«
»Schämen Sie sich nicht?«

Die Presse bleibt übrigens nach der Ankündigung der dritten Kandidatur unbeirrt beim Duell. ARD und ZDF machen Sonder-Interview-Sendungen mit den zwei Kandidaten. »Wir nehmen nur aussichtsreiche Kandidaten ins Programm«, wird das begründet.
Dann machen Kollegen vom Hamburger Abendblatt ein großes Interview mit mir – und in einer Passage werde ich auf den Begriff »Unrechtsstaat DDR« angesprochen. Ich antworte, dass die DDR ein Staat war, der »unverzeihliches Unrecht an seinen Bürgerinnen und Bürgern begangen habe«, der Begriff »Unrechtsstaat« aber wissenschaftlich und juristisch nicht existiere.
Nun ist aber was los! Von nun an hören die Anfragen der Redaktionen überhaupt nicht mehr auf. Und es geht nur noch um dieses eine Wort oder Un-Wort oder Ur-Wort. Selbst Kandidat Wulff nimmt mich nun zum ersten Mal öffentlich zur Kenntnis, um mir sogleich fehlendes Demokratie-Verständnis zu attestieren.

 

Der junge Redakteur des SPIEGEL, der mich in Berlin und Thüringen beobachtet, sagt: »Das haben Sie doch mit Kalkül so gesagt, damit Sie in die Medien kommen.« In die Medien kommen! Das ist die Parole der Zeit. Aber in die Medien kommen mit einem Wort beziehungsweise mit der Weigerung, einen politischen Begriff zu benutzen, der als angesagtes Credo gilt. Die Erfahrung werd ich so schnell nicht vergessen: Es gibt den alten Gesslerhut, den jeder grüßen muss! Im Jahr 2010 – wer hätte das gedacht?

Der 30. Juni 2010


Ich war überzeugt, nach dem ersten Wahlgang wäre alles entschieden. Und ich war überglücklich, als der Bundestagspräsident das Ergebnis bekanntgab: Jochimsen 126 Stimmen. Welch ein großartiges Gefühl des Zusammenhalts. Das war nämlich in diesen Tagen meine große Angst, dass am Ende stimmen würde, was der SPIEGEL geschrieben hatte: »Sie trat mit der Absicht an, Ost und West zu versöhnen. Nun spaltet sie sogar das eigene Lager.« Aber nun zeigte sich klar, dass diese Einschätzung einfach falsch war. Wunschdenken, aber falsch.

Das Drama des zweiten und dritten Wahlgangs


Ich hatte für mich nie einen Sinn darin gesehen, im dritten Wahlgang nochmals anzutreten. Wenn eine einfache Mehrheit reicht, kommt es zur Stichwahl – was soll da eine dritte Bewerbung?
Und für mich stand durch die ganze Wahlzeit hindurch fest, dass ich weder dem einen noch dem anderen Kandidaten meine Stimme geben könnte. Also: Enthaltung. Dafür habe ich dann auch bei der Delegation geworben. Und auch dafür: Geben wir uns alle die Freiheit der Entscheidung! Die 121 Enthaltungen beim dritten Wahlgang machten eins deutlich: DIE LINKE war nicht gespalten. Sie war sich treu geblieben. Sie stand für das, was sie in diesem historischen Moment des Juni 2010 von Anfang an gesagt hatte – und was ich versucht habe zu vertreten, so gut ich konnte.