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Hartz IV: Unmenschlich und undemokratisch

Interview der Woche,


Inge Hannemann, ehemalige Arbeitsvermittlerin in einem Jobcenter, im Interview der Woche über ihre Petition für die Abschaffung aller Sanktionen bei Hartz IV, den wenig demokratischen Umgang des Bundestags damit und den notwendigen Kampf gegen ein "System der Angst"

 

Mehr als 90.000 Menschen haben ihre Petition unterstützt, alle Sanktionen bei Hartz IV abzuschaffen. Im März 2014 war es dann so weit. Sie wurden vom Petitionsausschuss angehört und haben ihre Argumente vorgetragen. Der Petitionsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung ihr Anliegen als unbegründet zurückgewiesen. Hatten Sie den Eindruck, dass mit ihren Argumenten angemessen umgegangen worden ist oder stand das Ergebnis eigentlich vorher fest?

Inge Hannemann: Unter der SPD, CDU und CSU stand das Ergebnis bereits im Vorfeld fest. Rot-Grün hat die Agenda 2010 eingeführt und die SPD feiert sich bis heute dafür. Selbstverständlich müssen sie daran festhalten, um nicht ihre eigenen Fehler zuzugeben. Unserer heutigen Regierung fehlt bis heute das Rückgrat, Fehlentscheidungen zu korrigieren. So wird es lieber verteidigt, auch wenn es noch so skurril und unmenschlich ist. Dass die Grünen für ein Sanktionsmoratorium plädieren ist ein kleiner Fortschritt, aber bei weitem nicht ausreichend. Von dem her war ich nicht überrascht. Allerdings erschreckt mich bis heute das antisoziale Denken unserer Regierung.

Sanktionen gegenüber Menschen auszusprechen, die kaum mehr haben als das zum Leben notwendige – das ist ja zweifellos eine ernste Sache. Es geht um Grundlegendes, um Grundrechte der Demokratie. Wie sähe aus ihrer Sicht in einer Demokratie der richtige Umgang mit diesen existenziellen Fragen, also auch das Verfahren bei einer Petition wie der ihren, aus?

Primär sollten Betroffene eingebunden und angehört werden. Das ist bis heute nicht passiert. Weder bei der Petition noch bei den kommenden Gesetzesänderungen im SGB II. Das ist undemokratisch und läuft am Bedarf und Willen der Bürger*innen vorbei. Analysen, Erfahrungen und Kritik von Verbänden, Betroffenen, Initiativen und Politik werden bis heute komplett ignoriert. So entsteht der Eindruck, dass sich die Regierung in einem Kokon befindet, der von außen nicht durchdrungen werden darf. Selbstreflektion kann damit nicht stattfinden. Auch dieses ist höchst undemokratisch.

Fördern und fordern, so lautet das Prinzip von Hartz IV im offiziellen Politsprech. Sie haben viele Jahre im Jobcenter als Arbeitsvermittlerin gearbeitet. Was bedeutet dieses Prinzip in der Realität?

Fordern ist das Mantra in den Jobcentern. Das ist die logische Folge der internen Beeinflussung durch die Bundesagentur für Arbeit. Die Arbeitslosengeld-II-Leistungsberechtigten werden indirekt als unqualifiziert, krank und unselbstständig bezeichnet. Um den Steuerzahlern gerecht zu werden, müssen Instrumente herhalten, die paternalistische Züge aufweisen. Sind dieses auf der einen Seite prekäre Tätigkeiten wie Ein-Euro-Jobs, sind es auf der anderen Seite Vermittlungen in jede Tätigkeiten unter scharfen Sanktionsandrohungen – bis hin zur kompletten Streichung des Existenzminimums. So müssen die Erwerbslosen für den nicht funktionierenden Arbeitsmarkt herhalten, um die (Noch)- Beschäftigten ruhig zu halten. Um im Sinne der Erwerbslosen zu agieren, muss man um sich selbst eine Mauer bauen und eigenverantwortlich agieren. Das ist jedoch nicht überall gewünscht.

Nun sieht das vielleicht nicht jede und jeder Werktätige da draußen ein. Wenn ein Arbeitnehmer seinen Pflichten nicht nachkommt, dann wird der bei seinem Arbeitgeber auch nicht auf viel Gegenliebe stoßen. Der wird sich fragen: Warum sollte das bei Hartz IV-Beziehenden anders sein?

Gegenfrage: Ist das Jobcenter der Arbeitgeber für die Arbeitslosengeld-II-Leistungsberechtigten? Das Grundgesetz fordert das Sozialstaatsprinzip. Ein starker sozialer Staat agiert im Sinne eines Sozialstaates. Mit der Agenda 2010, insbesondere mit Hartz IV, wurde das ausgehebelt und stattdessen ein schwacher sozialer Staat errichtet. Solange es keine ausreichenden sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten gibt, über 50-Jährige aussortiert werden oder arbeiten für Null erwartet wird, stimmt das System nicht. Nicht die Erwerbslosen sind für ihre Misere verantwortlich, sondern diejenigen, die das jetzige System unterstützen.

Mehr als jeder dritte Hartz-IV-Empfänger, der gegen vom Jobcenter verhängte Sanktionen Widerspruch einlegte oder klagte, erhielt im Jahr 2015 Recht. Das ergab eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. 2013 waren sogar 42 Prozent der Widersprüche erfolgreich. Was sagt das über das Hartz-IV-System aus?

Wenn so vielen Widersprüchen und Klagen Recht gegeben wird, ist das System zu komplex. Vermutlich wäre dieses Quote noch höher, wenn sich mehr Menschen wehren würden. Es führt sich somit selbst ad absurdum. Nicht zu unterschätzen ist die Anzahl der Jobcenter-Mitarbeiter, die nicht sanktionieren, weil sie den Sinn darin nicht erkennen oder ablehnen. Selbstverständlich gibt es auch Mitarbeiter*innen, die einfach ihre "Pflicht" tun. Und es gibt Mitarbeiter*innen, die eine Sanktion lange herauszögern, bis sie selbst unter Druck geraten. Allerdings machen sie es nicht öffentlich, weil die Angst vor Repression überwiegt. Es ist ein System der Angst auf beiden Schreibtischseiten.

In dieser Woche ist ihre Petition noch einmal Thema im Plenum des Bundestags. Die Fraktion DIE LINKE fordert per Antrag die Anliegen ihrer Petition umzusetzen und zwingt die Abgeordneten, sich noch einmal mit dem Thema auseinanderzusetzen. Was versprechen Sie sich davon?

Wenn ich erwarten würde, dass meiner Petition stattgegeben wird, wäre ich unrealistisch. So lebt die derzeitige Regierung weiter in ihrer Traumwelt und ich erwarte dieselben neoliberalen, paternalistischen Reden wie im Petitionsausschuss. Wichtig ist jedoch, dass das Thema Sanktionen immer wieder auf die Agenda kommt. Möchte die Regierung lieber den Mantel des Schweigens darauflegen, vertrete ich die Meinung: "Jetzt erst recht." Sie hätten ja Ruhe, wenn sie die Sanktionen abschaffen würden.

Wie werden Sie den Kampf gegen die Sanktionen fortsetzen?

Ich werde dieses Thema immer wieder auf meine Tagesordnung setzen. Sei es in der Politik, in den sozialen Netzwerken oder in den Medien. Menschenrechte verschwinden nicht mit der Ablehnung einer Petition und noch weniger verschwinden sie, wenn man versucht diese zu ignorieren. Umso mehr müssen sie auf das Tableau der Öffentlichkeit. Deshalb habe ich mit einem kreativen Team aus Berlin den Verein "Sanktionsfrei" gegründet. Über eine Onlineplattform wollen wir, dass gegen jede Sanktion, die von einem Jobcenter verhängt wird, rechtlich vorgegangen wird. Nur rund 5 Prozent wehren sich gegen die Sanktionen. Verhängte Sanktionen werden aus einem Solidartopf aufgefüllt. Aktuell sammeln wir Geld über Crowdfunding, um das Projekt sanktionsfrei.de im Herbst vollumfänglich zu starten. Durch das Erreichen der ersten Fundingschwelle von 75.000 konnten wir Ende März bereits mit der Programmierung starten. Ein toller Erfolg. Allen Spender*innen ein großes Dankeschön. 


linksfraktion.de, 27. April 2016