Zum Hauptinhalt springen
Foto: Rico Prauss

»Haben Sie den Sekt schon kalt gestellt?«

Kolumne von Dietmar Bartsch,

 

Von Dietmar Bartsch, 2. Stellvertretender Fraktionsvorsitzender

 

Kennen Sie Leute, die für den 3. Oktober schon den Sekt bereitgestellt haben? Nein? Immerhin geht es um den „Tag der Deutschen Einheit“, also um nicht weniger als den „Nationalfeiertag“. Dem wird freilich eher phlegmatisch denn enthusiastisch entgegen gesehen, obwohl Mehrheiten in Ost und West begeistert ob der überwundenen staatlichen Teilung waren und sind. Allerdings ist inzwischen auch eine Generation herangewachsen, für die „Ost“ und „West“ bloß noch Himmelsrichtungen sind, die in Europa lebt und mit dem Nationalen herzlich wenig am Hut hat.

Ein Grund mäßiger Feier(tags)stimmung folgt wohl aus der Zufälligkeit eines Datums, mit dem die meisten Menschen weder Erlebnis noch Geschehnis verbinden. Die Kohl-Regierung der BRD und die CDU-geführte DDR-Regierung wollten vor vierundzwanzig Jahren die rasche Einheit, schnellstmöglich nach Abschluss der Zwei plus Vier-Verhandlungen. So erklärte die letzte DDR-Volkskammer im Sommer 1990 „den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ mit Wirkung vom 3. Oktober 1990.

Die Reserviertheit gegenüber dem Einheits-Feiertag mag im Osten wesentlich darin wurzeln, dass der „Beitritt“ vielfach eben nicht als Vereinigung sondern als Anschluss der DDR erlebt, von nicht wenigen erlitten wurde. Aus Hunderttausenden Demonstranten wurden auch Millionen Arbeitslose, prekär Beschäftigte oder Hartz VI-Empfängerinnen und -Empfänger.  Von dem Land, in dem sie gelebt und gearbeitet hatten, für dessen demokratische Erneuerung sie unter der Losung „Wir sind das Volk!“ auf die Straßen gingen, schienen nach offizieller Lesart letztlich nur ein jämmerlicher Grüner Pfeil und ein possierliches Sandmännchen des Bewahrens wert. Wenigstens angestoßen wurde weiter mit „Rotkäppchen“ aus Freyburg/Unstrut. Im Westen hatte man plötzlich die Brüder und Schwestern näher am Hacken und einen riesigen Absatzmarkt für gebrauchte Autos und Beamte. Positive Vereinigungserlebnisse erfuhren die dort Lebenden kaum, eher das Gefühl, ihnen würde nun kräftig in die Taschen gelangt. Dass der „Soli-Zuschlag“ den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in ganz Deutschland abverlangt wurde, erschloss sich für Erika und Max Mustermann ebenso schwer wie die immensen Kapitalrückflüsse aus den „neuen“ in die „alten“ Länder.  Um Solidarität wurde nicht geworben, mit ihr wurde zugeschlagen!

Ich ignoriere weder die Zugewinne an Freiheit und Lebensqualität östlich noch das ehrliche Engagement vieler westlich der Elbe. Die Fortschritte in der Infrastruktur sind unübersehbar. Ob es die versprochenen „blühenden Landschaften“ geworden sind, sei mal dahingestellt. Das klang ohnehin eher nach nordkoreanischem Parteiprogramm. Fakt ist, dass die abgehängten Regionen im Osten nicht weniger und im Westen eher mehr werden, dass der Putz in Schulen und Krankenhäusern hier wie da bröckelt.

Das flaue Gefühl, die deutsche Vereinigung habe Gewinner und Verlierer, mehr noch: Sieger und Besiegte, mit sich gebracht, ist nicht nur im Materiellen begründet. Die Tatsache, dass laut Gesetz aus dem Jahr 2014 (!) eine Mutter in Stuttgart für ein vor 1992 geborenes Kind 28,60 Euro Rente zusätzlich erhält, die in Schwerin aber nur 26,38 Euro mag für viele (nicht für alle!) finanziell marginal sein. Verheerend ist die damit verbundene Sub-Botschaft zum Wert eines Menschen. Oder: Von den 182 Vorständen von DAX-Unternehmen sind ganze vier in Ostdeutschland geboren und aufgewachsen. Es sind nur zwei Beispiele dafür, wie die herrschende Klasse die deutsche Einheit 24 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 versteht.

Wie es aktuell um die grundgesetzlich geforderte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bestellt ist, offenbart jeder Sozialatlas: Die Umrisse der DDR werden haarscharf abgebildet. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht. Die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland näherten sich denen in Westdeutschland nur noch schleichend an, war jüngst aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zu hören. Beim Bruttoinlandsprodukt ist der Osten jetzt bei 75,5 Prozent des Westniveaus angekommen. Zwischen 2001 und 2012 gab es alle drei Jahre eine Angleichung um ein Prozent. Wird dieser Spaziergang fortgesetzt, haben wir 2085 gleichwertige Verhältnisse. Immerhin noch kurz vor dem hundertjährigen Jubiläum der deutschen Einheit! Die Renteneinheit hat die Kanzlerin bereits für 2020 versprochen. Donnerwetter.

Sollte auch für Sie Sekt oder Selters keine wirkliche Alternative am 3. Oktober sein, so machen Sie sich wenigstens einen schönen Tag. Tanken Sie Kraft dafür, dass wir gemeinsam doch noch erreichen, was uns Bertolt Brecht via „Kinderhymne“ ins Stammbuch schrieb: Dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land.

linksfraktion.de, 29. September 2014