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Gemeinsame Feste, gemeinsame Werte

Im Wortlaut von Raju Sharma,

Von Raju Sharma, religionspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Der 9. September ist in diesem Jahr für viele Menschen in Deutschland ein Tag zum Feiern. Mehr als einhunderttausend in Deutschland lebende Juden feiern seit gestern Abend das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Denn nach dem hebräischen Kalender ist heute der erste Tag des neuen Jahres 5771. Außerdem beginnen die zehn „ehrfurchtsvollen Tage“, die mit dem Versöhnungsfest Jom Kippur enden.

Die Muslime feiern heute ihr zweitwichtigstes Fest - das Ende des Ramadan. Ab heute wird nachgeholt, was zuvor einen Monat lang nicht gestattet war: Essen, Trinken oder Rauchen vor dem Sonnenuntergang. Nun werden drei Tage lang Verwandte besucht, Kinder beschenkt, und es wird der Toten gedacht.

Allerdings werden die beiden religiösen Feiertage von der Mehrheit der Menschen in Deutschland gar nicht wahrgenommen. Denn anders als bei den christlichen Hauptfesten ist kein einziges wichtiges Fest einer anderen Religion ein offizieller Feiertag in Deutschland. Darüber, ob das geändert werden sollte, lässt sich streiten. Vor dem Hintergrund der erschreckend hohen Zustimmung, die Thilo Sarrazin mit seinen rassistischen Thesen erzielen konnte, lohnt es sich aber, darauf hinzuweisen. Ist es doch eines von vielen Zeichen, dass die mehrheits-christliche Gesellschaft in Deutschland von einer offenbar gefürchteten „Islamisierung“ weit entfernt ist.

Und noch eines zeigt sich darin: Eine Gleichbehandlung aller Religionen, wie sie verfassungsrechtlich vorgesehen ist, ist in Deutschland keineswegs Realität. Die christliche Religion ist – trotz der eigentlich geforderten Trennung von Staat und Kirche – mit zahlreichen Privilegien ausgestattet und dadurch als „Leit-Religion“ anerkannt. Die Folgen eines solchen Religionsverständnisses zeigen sich in der jetzigen Debatte um die Sarrazin-Thesen, aber auch in Protesten gegen Moscheen oder der Diskriminierung von Muslimen im Arbeitsleben oder bei der Wohnungssuche.

Vielfach wird betont, dass die Bildung der Schlüssel zur Lösung der Integrationsprobleme ist. Das ist wahr. Denn dass die kruden Gen-Theorien Sarrazins auf so viel Zustimmung treffen, offenbart bei vielen Menschen deutscher Herkunft eine mangelnde Kenntnis humanistischer Grundwerte: Respekt vor allen Menschen, gleich welcher Herkunft, Religion oder Hautfarbe sowie Offenheit und vorurteilsfreie Neugierde gegenüber dem zunächst Fremden.

Leider ist auch im Integrationsprogramm der Bundesregierung vom Problem einer offenbar latent vorhandenen Fremdenfeindlichkeit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft an keiner Stelle die Rede. Aber auch dies ist ein Punkt, über den offen gesprochen werden muss – ganz ohne Tabus.

Der heutige Tag könnte genutzt werden, um ein Zeichen gegen solche Vorbehalte zu setzen. Es wäre schön, wenn er von vielen zum Anlass genommen würde, um sich mit der jüdischen und der muslimischen Religion auseinander zu setzen. Denn nur wenn das Fremde nicht fremd bleibt, ist Annäherung möglich – von beiden Seiten.

Das gilt auch für das Verhältnis von Juden und Muslimen. Dass beide heute hohe religiöse Feste feiern, könnte ein Anstoß sein für die Verhandlungen in Nahost: für die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung und dafür, sich diese Einsicht von keinem der Hassprediger in aller Welt trüben zu lassen. 

www.linksfraktion.de, 9. September 2010