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Furcht vor dem Volk

Im Wortlaut von Wolfgang Neskovic,

Grubes Rechtsverständnis ist mangelhaft

Im Kampf um Stuttgart 21 stehen alle Zeichen auf Eskalation. Der Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube, setzt alles daran, die aggressive Situation weiter anzuheizen. Er verweigert sich vehement einem Baustopp während der Schlichtungsphase – und lässt den Schlichter, Heiner Geißler, wenige Tage nach dessen Berufung auflaufen. Grube zeichnet sich im Konflikt um den Bahnhofsneubau seit Beginn der öffentlichen Debatte durch irritierende Beiträge aus. Jüngst räsonierte der Manager über den Zusammenhang zwischen einem Stuttgarter Bahnhofsbau und der Regierung der DDR: Gegen Stuttgart 21 gäbe es kein »Widerstandsrecht«, gegen die DDR habe es ein solches gegeben. Grube begründet: Die Revolutionäre des Jahres 1989 haben für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gestritten. In der Bundesrepublik sind beide verwirklicht. Deshalb entscheiden bei uns die Parlamente und nicht die Bürger über ein Bahnhofsprojekt.

Grubes bemühter Vergleich zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit ist peinlich. Kein Demonstrant auf dem Leipziger Ring hätte sein politisches Selbstbewusstsein an einer Wahlurne aufgegeben. Die Bürgerrechtsbewegung der DDR stritt für eine parlamentarische Republik mit starken plebiszitären Elementen. Schlimmer aber ist, dass Grubes Verständnis für das Grundgesetz sein historisches Wissen kaum übertrifft.

Grube unterstellt den Stuttgarter Demonstranten die (unbefugte) Wahrnehmung des Widerstandsrechtes. Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes gibt den Deutschen das Recht zum Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsrechtliche Ordnung zu beseitigen. So schlimm aber stehen die Dinge in Stuttgart nicht. Was dort stattfindet, ist der schlichte Gebrauch der für unsere Demokratie konstitutiven Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. In einer Demokratie ist es selbstverständlich, dass die Bürger Entscheidungen ihrer Volksvertreter kritisieren und dagegen protestieren. Denn die Demokratie des Grundgesetzes lebt vom ständigen Wandel. Die Verfassung schützt die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit der Bürger nicht zuletzt deshalb, um einer unbeweglichen Politik bei Bedarf Druck zu machen.

Die deutsche Politik hat mit Milliardenbergen aus Steuergeldern Finanz- und Realindustrie vor dem Kollaps bewahrt. Sie hat der breiten Masse der Menschen mit den Sparpaketen ebenso hohe Einbußen verordnet. Die Demonstranten in Stuttgart wissen: Heute ist nicht die Zeit für milliardenschwere Großprojekte. Es ist vielmehr höchste Eisenbahn, die staatliche Ausgabenpolitik von ihren Gerechtigkeitsmängeln zu befreien. Glitzernde Bahnhöfe erfreuen lediglich die Geschäftspartner und Aktionäre der Bahn. Die ganz breite Masse der Menschen aber hat nichts von der neuen Pracht. Stuttgart ist exemplarisch. Der Protest dort richtet sich auch gegen eine Mehrheitspolitik, die sich stur und gegen Kritik unempfänglich zeigt. Diese Politik lehnt Volksabstimmungen ab. Sie scheut es, den Entscheidungsprozess bis zu den kommenden Wahlen auszusetzen. Sie lädt nur dann zum »Dialog«, wenn es ihr darum geht, den eigenen Standpunkt zu begründen. Sie schafft mit Abriss und Abholzungen Tatsachen, um die Kosten für einen zukünftigen Projektausstieg zu verteuern. Diese Politik fürchtet sich vor dem Volk. Die Verweigerung des Bahnchefs, einen Baustopp zu erwägen, passt in dieses Bild.

Noch viel mehr als vor dem Volk fürchtet sich diese Politik vor der Wirtschaft. Ohne diese Angst wäre es möglich, den Bahnhofsbau zu stoppen und den anspruchsberechtigten Beteiligten Schadenersatz zu zahlen. Das wäre demokratisch und rechtsstaatlich. Wer hingegen – wie Herr Grube – einen Gegensatz zwischen Rechtsstaat und Demokratie zu konstruieren sucht, hat den Sinn unserer Demokratie nicht verstanden. Demokratie bedeutet ständige Veränderung. Das schließt auch die Auswechslung eines Bahnchefs ein.
 

Von Wolfgang Nešković

Neues Deutschland, 13. Oktober 2010