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Foto: Rico Prauss

Freiheit, Gleichheit, Solidarität

Im Wortlaut von Susanna Karawanskij,

Menschen nach der Öffnung der DDR-Grenzen am 9. November 1989 vor und auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor mit dem ehemaligen Reichstagsgebäude im Hintergrund, Foto: flickr.com/zumpe

 

Von Susanna Karawanskij
 

An den 9. November 1989, also die Öffnung der innerdeutschen Grenze, wird und muss aus ganz verschiedenen Perspektiven erinnert werden. Für mich als damals neunjähriges Mädchen aus dem Leipziger Neubaugebiet Grünau ist damit eine Veränderung verbunden, die auf den ersten Blick vielleicht abseitig wirkt. Neonfarbige Schnürsenkel und Cornflakes. Später kamen auberginefarbene Jackets mit Schulterpolstern und andere ästhetische Schandtaten der Spätachtziger und frühen Neunziger. Die Produktwelle, die zügig durch die nun offene Mauer schwappte, war für mich als Kind vor allem – bunt.

Gemeinsam mit mir sind inzwischen, grob geschätzt, 15 Jahrgänge erwachsen geworden, die damals entweder sehr jung oder noch nicht geboren waren. Es sind die unter dem Schlagwort “Dritte Generation” mittlerweile leidlich bekannt gewordenen Jahrgänge. Doch auch wir stehen vor dem Fakt, dass die Mauer zwar physisch schon lange nicht mehr existiert, sozial und ökonomisch jedoch sehr wohl präsent ist.

Fast jede statistische Erhebung über wesentliche gesellschaftliche Fragen lässt in der grafischen Darstellung die neuen Bundesländer und damit das Gebiet der vormaligen DDR besonders hervortreten. Und auch hinsichtlich der Warenströme, die mir als Kind durch ihre intensive Farbigkeit auffielen, hat sich in den zweieinhalb vergangenen Jahrzehnten nicht ausreichend viel geändert. Nun werde ich oft genug gefragt, ob nicht endlich mal Schluss sein müsste mit dem Gerede von Ost und West, ob dies nur noch Nostalgie sei, es ein geeinigtes Deutschland gibt und das inzwischen eigentlich nur noch nervt.

Meine Antwort darauf lautet: Ja, es nervt. Es macht mich sauer, dass zum Beispiel in Sachsen die Löhne der Industriearbeiterinnen die mit Abstand niedrigsten im ganzen Bundesgebiet sind. Es ist unerträglich, dass in der Generation meiner Eltern, die nun in Rente geht, die Hälfte von Altersarmut bedroht ist. Und ich bin wütend darüber, dass im akademischen Bereich für Ostdeutsche die berufliche Entwicklung fast immer höchstens im Mittelbau endet. Ja, das nervt und muss ein Ende haben. Denn diese soziale Spaltung des Landes schadet den arbeitenden Menschen in Ost und West gleichermaßen.

Vor 214 Jahren gab es einen anderen 9. November, der als 18. Brumaire in die Geschichte eingegangen ist – als das Ende der Französischen Revolution. Damals lautete die Losung “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” - heute sagen wir Solidarität. Seit zwei Jahrhunderten steht dies nun auf der politischen Tagesordnung, und ich habe noch niemanden gehört, der behauptet hätte, es würde nerven oder sei Nostalgie, wenn man sich diesen Forderungen zuwendet.

An beide 9. November erinnernd meine ich also: Ja, Freiheit! Und einiges ist dazu noch zu tun. Ja, Gleichheit! Viel mehr noch und nicht nur in diesem Land. Und: Ja, Solidarität! Als das, was alle Gesellschaft zusammenhält. Der 9. November 1989 war auch ein Schritt auf diesem sehr langen Weg. Und ein Ende dieser Geschichte ist noch nicht in Sicht.

linksfraktion.de, 8. November 2013