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Eine Frau in Jeans trägt ein Sofa © iStockphoto.com/monkeybusinessimages

Existenzminimum wird bei Umzug gekürzt

Nachricht von Katja Kipping,

Wenn Leistungsberechtigte des Arbeitslosengelds II umziehen, erhalten sie vom Jobcenter Darlehen für die Mietkaution. Zur Rückzahlung dieser Darlehen wird der monatliche ALG-II-Satz um 10 Prozent gekürzt – so lange, bis das Darlehen getilgt ist. Bei einer Kaution von drei Monatsmieten und einer Miete von 500 Euro dauert das drei Jahre; noch länger ist es bei Anteilen für Wohnungsbaugenossenschaften. Während dieser Zeit erhalten ALG-II-Beziehende also nicht die – ohnehin minimalen – 409 Euro, sondern nur 368 Euro. Damit soll jahrelang sowohl der Lebensunterhalt bestritten als auch gesellschaftliche Teilhabe garantiert werden. Eine Kleine Anfrage [PDF] der Linksfraktion zeigt, dass die Bundesregierung diese Existenzgefährdung komplett ignoriert.

Die Bundesregierung zeigt sich in ihrer Antwort [PDF] fachlich komplett uninformiert. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) kennt weder die Zahl der Betroffenen noch die Zeiträume der Leistungskürzungen. Dazu Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE: „Hier wird jahrelang das Existenzminimum gekürzt. Dabei sind die Regelleistungen ohnehin schon künstlich kleingerechnet – woran sollen die Betroffenen denn noch sparen, am Essen? Die Bundesregierung hat noch nicht einmal versucht, das Ausmaß der Kürzungen herauszufinden. Damit demonstriert das Haus Nahles sein totales Desinteresse für Erwerbslose und Aufstockerinnen und Aufstocker.“

DIE LINKE fragte auch zu der zunehmend kritischen Rechtsprechung von Sozialgerichten. Laut Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.06.2017 – L 7 AS 607/17) ist die Kürzung der Regelleistung für Mietkautionsdarlehen rechtswidrig, da sie das Existenzminimum systemwidrig schmälert. Auch das Bundessozialgericht bezweifelt die Rechtmäßigkeit (Urteil vom 29.06.2015 – B 4 AS 11/14 R). Denn die ALG-II-Regelleistung ist nicht so berechnet, dass sie ein Ansparen für eine Mietkaution ermöglicht. Ob die Bundesregierung die sozialgerichtliche Kritik überhaupt zur Kenntnis genommen hat, wird in ihrer Antwort nicht deutlich. „Die Bundesregierung hat offensichtlich keine Antwort darauf, dass hier das verfassungsrechtlich geschützte Existenzminimum angegriffen wird. Sie leugnet den Grundrechtsverstoß einfach und verschließt die Augen vor der Kritik durch Sozialgerichte.“, so Kipping.

Gefragt nach den Gründen, die für die Kürzung sprechen, schweigt sich die Bundesregierung erneut aus. Für die Jobcenter ist sie bequem. Bis 2011 mussten sie mehr Aufwand betreiben und durften die Rückzahlung erst dann fordern, wenn die Betreffenden kein ALG II mehr bezogen oder die Mietkaution vom Vermieter zurückbekommen hatten. Von der Regelleistung durfte nichts abgezogen werden. Seit 2011 können alle Darlehen mit der Regelleistung verrechnet werden. Ob die jahrelange Existenzgefährdung bei Mietkautionsdarlehen in Kauf genommen wird, um Aufwand zu ersparen, dazu äußert sich die Bundesregierung nicht. Katja Kipping dazu: „Die Aufrechnung ist für die Jobcenter bequem, und das genügt der Bundesregierung wohl. Dass dies Erwerbslose, Aufstocker und Aufstockerinnen in ihrer Existenz gefährdet, ist Ministerin Nahles scheinbar egal.“


Im Detail zu den Antworten der Bundesregierung

  • Zu den Antworten auf Fragen Nrn. 1 bis 7, Frage Nr. 8, Fragen Nrn. 10 und 11:
    Das BMAS weiß weder, bei wie vielen Haushalten die Regelleistungen mit Kautionsdarlehen aufgerechnet werden, noch über welche Zeiträume sich diese Kürzungen erstrecken. Es hat also keinerlei Kenntnis über das Ausmaß, in dem das Existenzminimum gekürzt wird.
    Neben Mietkautionen zählen auch Anteile an Wohnungsbaugenossenschaften zu den Wohnungsbeschaffungskosten. Bis 2016 bestand dazu keine genaue gesetzliche Regelung, sodass teilweise Darlehen erteilt und teilweise Zuschüsse gezahlt wurden. Auch hier hat das BMAS keine Information darüber, in wie vielen Fällen welche Form der Leistungserbringung gewählt wurde. Seit 2016 ist klar geregelt, dass Darlehen zu erbringen sind. Wiederum hat das BMAS keine Kenntnis von der Zahl der Betroffenen und dem Zeitraum der Leistungskürzungen, obwohl diese noch wesentlich länger sein müssen als bei Mietkautionsdarlehen.
  • Zur Antwort auf Frage Nr. 9:
    Mit der Reform 2016, die Darlehen für Genossenschaftsanteile festschreibt, wurde die Aufrechnung und die Kürzung der Regelleistung erheblich ausgeweitet. Zu den Gründen dafür äußert sich die Bundesregierung nicht.
  • Zur Antwort auf Fragen Nrn. 12 bis 15:
    Das BMAS setzt sich noch nicht einmal ansatzweise mit der juristischen Kritik an der Aufrechnung auseinander. Hauptsächlich führt es Hintergrundaspekte aus, die für die Beantwortung der Frage nicht von Belang und teilweise allgemein bekannt sind, beispielsweise die Funktionsweise von Mietkautionen und den Unterschied zwischen Darlehen und Zuschüssen. Diese Abschweifungen machen insgesamt den Schwerpunkt der Antwort aus.
    Die Antworten auf die sozialrechtliche Kritik sind lapidar und werden nicht begründet. So bezeichnet das BMAS den Gesetzeswortlaut des § 42a Abs. 2 SGB II als eindeutig. Auf die Gegenargumente, weshalb diese Norm interpretierbar und verfassungskonform auszulegen ist (u.a. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vom 29.06.2017 – L 7 AS 607/17, Sophia Nguyen, „Keine monatliche Aufrechnung bei Mietkautionsdarlehen“ in Die Sozialgerichtsbarkeit 04/17), geht das BMAS nicht ein. Es bestreitet auch die Gefahr, dass das Existenzminimum nicht gedeckt ist. Auch hier geht das BMAS nicht auf die juristische Kritik (s.o.) ein, dass Regelleistung und Unterkunftskosten systemwidrig vermischt werden. Dass das BMAS diese Positionen nicht kennt, ist unwahrscheinlich. Das völlige Fehlen jeglicher Auseinandersetzung damit deutet eher darauf hin, dass das BMAS selber erkennt, wie wenig es diesen Kritiken entgegenhalten kann.
    Statt sich mit dem konkreten Thema zu beschäftigten, verweist das BMAS auf ein Urteil des Bundessozialgerichts in einer ganz anderen Konstellation der Aufrechnung. Als Möglichkeiten, die Existenzsicherung zu garantieren, nennt das zitierte Urteil den Erlass einer Forderung, die Zahlung eines Zuschusses und Darlehen. Diese Varianten passen sämtlich nicht auf Mietkautionsdarlehen: Ein weiteres Darlehen würde gerade nichts daran ändern, dass jahrelang das Existenzminimum gekürzt wird. Ein Erlass der Rückforderung oder die Zahlung eines Zuschusses sind nicht sachgerecht, da die Kaution letztendlich in das Vermögen der Betreffenden übergeht. Auch hier macht sich das BMAS nicht die Mühe einer fundierten Antwort, sondern speist die Fragenden mit Floskeln ab.