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»Es kommt auf jede Stimme an«

Im Wortlaut von Dagmar Enkelmann,

Dagmar Enkelmann, 1. Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag über Möglichkeit einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung, schwindendes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Parlament, überforderte Abgeordnete und den Kampf der LINKEN gegen die "Konsenssoße" der anderen Parteien

Nur noch wenige Tage bis zur Bundestagswahl: Parteien, Politikerinnen und Politiker befürchten eine historisch niedrige Wahlbeteiligung. Worauf führen Sie die möglicherweise sinkende Wahlbeteiligung zurück?

Dagmar Enkelmann: Ich möchte da nicht im Kaffeesatz lesen, sondern vielmehr alle Bürgerinnen und Bürger aufrufen, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. In der Demokratie ist Wählen nicht alles, aber eine wichtige Möglichkeit mitzubestimmen und mitzuentscheiden. Der Wahlausgang wird immer knapper, es kommt buchstäblich auf jede Stimme an. Ganze 6000 Stimmen lag die SPD 2002 vor der Union. Auch dieses Mal wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün vorausgesagt. Sorgen wir alle dafür, dass die Koalition von Union und FDP abgewählt wird und ein wirklicher Politikwechsel eine Chance bekommt.  

Woran hat der Parlamentarismus in der vergangenen Legislatur gekrankt?

Außerordentlich schwierig war es, die Regierung zu kontrollieren. DIE LINKE stand einige Male als Opposition ganz allein da – so mit der Ablehnung der Euro-"Rettungspakete" oder der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Viele Minderheitenrechte, wie sie in der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt sind, kann eine Fraktion allein nicht wahrnehmen. Da ist es dann ein harter Job, wenigstens ordnungsgemäße parlamentarische Beratungen zu sichern.

Das schwindende Vertrauen der Bevölkerung gefährdet den Parlamentarismus an sich. Werden Wahlzusagen nicht eingehalten und denken Abgeordnete mehr an ihr eigenes Wohl als an das der Bürger, kann man den Leuten die Politikverdrossenheit nicht übel nehmen. Diese trifft übrigens, das spüre ich bei meiner Arbeit, auch die Oppositionsparteien. Die werden, ob zu Recht oder nicht,  von den Bürgern mit der Regierung in eine Ecke gestellt. Auch deshalb brauchen wir mehr direkte Demokratie, eine sorgfältigere Gesetzgebung und bessere Kontrollinstrumente gegenüber der Regierung – auch für eine einzelne Fraktion. Alle parlamentarischen Prozesse müssen transparent werden, also auch die Arbeit der Ausschüsse, die aus unserer Sicht prinzipiell öffentlich tagen sollten.

Was bedeutet eine sinkende Wahlbeteiligung für die Legitimation des Bundestages?

Rein rechtlich nichts. Nach herrschender Auffassung bedarf es keiner Mindestbeteiligung an den Wahlen, damit das Parlament arbeiten kann. Praktisch aber zweifelt niemand daran, dass das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie auf dem Vertrauen der Bevölkerung beruht. Sinkende Wahlbeteiligung ist für mich ein eindeutiges Zeichen, dass es daran mangelt.

Die Euro-Krise hat das Parlament auf Trab gehalten. Haben Sie den Eindruck, dass die Eile der Entscheidungen sowie ihre Tragweite die Abgeordneten überfordert?

Das war schon in der Legislaturperiode von 2005 bis 2009 so und hat sich nicht grundlegend gewandelt. Zwar erhielt der Bundestag in den letzten Jahren bei den Entscheidungen zu Europa  mehr Informations- und Mitspracherechte, wirklich genutzt aber hat er diese nicht. Am Ende nickte die ganz große Koalition von Union, FDP, SPD und Grünen die "Rettungspakete" meist problemlos ab, selbst wenn die Vorlagen hunderte von Seiten stark waren und erst kurz vor Beginn der Beratungen eintrafen. Am Prinzip, dass die Finanzmärkte die Tagesordnung des Bundestages bestimmten, hat sich nicht viel geändert.  

Mitunter gab es in einer Sitzungswoche nahezu 100 Tagesordnungspunkte, dazu Aktuelle Stunden, die Befragung der Bundesregierung und die Fragestunde. Angesichts dessen kann von einer ernsthaften Behandlung einzelner Anliegen kaum mehr eine Rede sein. Dieses Parlament braucht dringend eine "Entschleunigung".

Was gehörte aus LINKER Sicht zu den Höhepunkten der Legislatur?

Da wird einiges im Gedächtnis bleiben: unser stiller Kunduz-Protest im Februar 2010 im Plenum, nach x abgelehnten Anträge von uns endlich im November 2012 das fraktionsübergreifende Aus für die Praxisgebühr, das Scheitern der Koalition bei der ersten Beratung des Betreuungsgeldes oder der große Zettel, auf dem jeder Abgeordnete namentlich über jeden unserer 19 Ost-Rentenanträge abstimmen musste.

In Erinnerung bleibt der NSU-Untersuchungsausschusses, auch wenn sein Anlass – die Mordserie der Naziterroristen – ein nicht wieder gut zu machendes Staatsversagen darstellt. Erstmalig aber wurde der Abschlussbericht eines Untersuchungsausschusses von den Fraktionen einstimmig verabschiedet, gab es in der Ausschussarbeit gegenseitige Akzeptanz und Unterstützung.

Die Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall hat jüngst eine Studie zu Nebeneinkünften der Abgeordneten veröffentlicht. Danach verdient jeder dritte Abgeordnete neben seinem Mandat kräftig hinzu. Insgesamt haben die Abgeordneten in dieser Wahlperiode 32 Millionen Euro erzielt. Wie bewerten Sie die Studie?

Mich erfreut, in der Studie lesen zu können, dass die Abgeordneten der LINKEN sich vergleichsweise am stärksten auf die Ausübung ihres Mandat konzentrieren. Wir haben darüber hinaus einen Teil unserer Diäten gespendet, nämlich den, der uns durch die Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung in der Legislatur zugeflossen war.  

Die Studie der Brenner-Stiftung beweist einmal mehr, dass die Nebentätigkeiten der Abgeordneten von der Öffentlichkeit genau unter die Lupe zu nehmen sind. Es muss noch viel transparenter werden, woher die Abgeordneten ihre Einkünfte beziehen. Auch um möglichen Interessenkonflikten vorzubeugen, muss genau nachvollziehbar sein, wer wie viel verdient und wie viel Zeit aufgrund von Nebentätigkeiten nicht für die Mandatsarbeit zur Verfügung steht.

Stichwort Transparenz: Ab der kommenden Wahlperiode müssen Bundestagsabgeordnete Nebeneinkünfte detaillierter offenlegen - in zehn statt drei Stufen, bis hin zu Einnahmen von mehr als 250.000 Euro. Ist DIE LINKE mit dieser Regelung zufrieden?

Die neuen Einkommensstufen sind ein Schritt nach vorn – das Grundproblem ist dennoch geblieben: Auch zehn Stufen verschleiern mehr, als dass sie offenlegen. Für uns ist klar: Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten sind grundsätzlich auf den Betrag genau, also auf Euro und Cent,  zu veröffentlichen. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf zu wissen, wer von wem wofür wie viel Geld bekommen hat. Die Abgeordneten der LINKEN gingen auch hier mit gutem Beispiel voran und legten ihre Nebeneinkünfte freiwillig offen.

Mehr Transparenz heißt darüber hinaus: Der Einfluss von Lobbyisten ist  weiter zurückzudrängen. Tätigkeiten, die mit der unabhängigen Stellung der Abgeordneten unvereinbar sind, dürfen nicht länger zulässig sein. Die Vermarktung des Mandats, Gefälligkeitszahlungen und sonstige Korruption sind effektiv auszuschließen. Auch die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung und ein verpflichtendes, sanktionsbewehrtes Lobbyistenregister müssen beschlossen werden. Da kommt in der nächsten Legislatur viel Arbeit auf uns zu.

Gregor Gysi hat in seiner letzten Rede dieser Legislatur die "Konsenssoße" der anderen Bundestagsfraktionen kritisiert. Warum wird gerade heute DIE LINKE im Bundestag gebraucht?

Hätte es einen Konsens für einen gesetzlichen Mindestlohn, für menschenwürdige Renten, eine höhere Grundsicherung, für mehr Geld in Bildung und Gesundheit und gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr gegeben, wäre Gregor nie dagegen zu Felde gezogen. Die "Konsenssoße" lief aber immer auf Sozialabbau, prekäre Beschäftigung, die Rente erst ab 67 und andere Ungerechtigkeiten hinaus. DIE LINKE ist die einzige Partei, die da konsequent dagegenhält. Deswegen wird sie im Bundestag gebraucht – und zwar so stark wie möglich.

linksfraktion.de, 17. September 2013