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»Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen!«

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Der Nachrichtensprecher der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens verliest eine Nachricht über die Protestdemonstration am 4. November 1989 in Berlin / Foto: picture alliance/ZB

 

Die größte Demonstration in der Geschichte der DDR: Am 4. November 1989 ziehen mehr als 500.000 Menschen auf den Alexanderplatz in Ost-Berlin. Sie sind nicht mehr zu übersehen und nicht mehr zu überhören: "Blumen statt Krenze" und "Das Volk sind wir – gehen sollt ihr". Wie kaum ein anderes Ereignis markiert die Alexanderplatz-Demonstration einen zentralen Punkt auf dem langen Weg hin zu dem Tag, an dem die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht länger haltbar waren. Ein Meilenstein der friedlichen Revolution in der DDR.

Die Perspektiven auf diesen 4. November 1989 sind vielschichtig. Es war die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration. Sie steht für einen Aufbruch, den Anspruch auf eine andere, eine demokratische DDR und vielleicht auch den letzten Versuch der Staatsmacht, die Bürgerrechtsbewegung einzuhegen. Noch ist nichts entschieden am Morgen dieses 4. November 1989. Da ist die Hoffung auf ein Ende der Angst, aber da ist auch die letzte Unsicherheit – bleibt es friedlich?

Richtung Brandenburger Tor durchbrechen?

Wie gefährlich die Lage war, berichtet Petra Pau, damals Mitarbeiterin im Zentralrat der FDJ und heute Vizepräsidentin des Bundestags. Sie sah die Übertragung der Demonstration im Fernsehen, und dass es eine Übertragung gab, kam an sich schon einer Sensation gleich. Doch Petra Pau sah auch, was sich im Innenhof des Zollernhofs abspielte: "Dort standen Fahrzeuge, die mit einem normalen Polizeieinsatz garantiert nichts zu tun hatten, ich habe für mich assoziiert: Panzer, es können auch Wasserwerfer gewesen sein, so gut kannte ich mich da nicht aus, aber der Anblick war bedrohlich. In der Kantine lümmelten sich körperlich gut ausgebildete Männer in Uniform herum, die offensichtlich zu diesen Fahrzeugen gehörten, ich würde sagen, die waren vom Wachregiment, und dort wurde zynisch auch über den Tisch hin- und hergeworfen, was man denn so alles vorhätte, wenn die Demonstranten in Richtung Brandenburger Tor durchbrächen." Sie fuhr nach Hause und verfolgte das Geschehen am Fernsehen: "Für mich war unklar, in welche Richtung es gehen würde, aber klar war, es war die Absage an die DDR in ihrer alten Form."

Von unten, nicht von oben

Als einer von mehreren Rednerinnen und Rednern sprach Gregor Gysi vor den Menschen auf dem Alexanderplatz: "Ich hoffe sehr", sagte Gregor Gysi, "dass diese Demonstration gewaltfrei bleibt und damit ein Stück gewonnene Kultur wird." Er verwies auf die Bedeutung dieser Versammlung. Es sei die erste Demonstration, die nicht von oben, sondern von unten organisiert, aber auf dem Rechtsweg beantragt und genehmigt worden sei. Jahre später gestand Gregor Gysi, damals Anwalt in Ost-Berlin, dass ihm bei den ersten Worten vor Aufregung die Knie zitterten. Die Verantwortung wie die Wahl der richtigen Worte lastete schwer. Es sei längst nicht klar gewesen, wie die Situation sich entwickle. Dass die Demonstration immerhin von offizieller Seite genehmigt wurde, ging auf eine Idee Gysis zurück. Im Vorfeld hatte er geraten, die Demonstration auf dem Rechtsweg anzumelden. Sollte das nicht akzeptiert werden, gebe es immer noch Mittel und Wege, sich zu verhalten. Dass es möglich war, nährte die Hoffnung auf Veränderung.

Den aufrechten Gang erlernen

"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen", rief der Schriftsteller Stefan Heym den Menschen zu. Und er sprach aus, was viele hofften, und den meisten, die dabei waren, bis heute in Erinnerung ist: "Nach all' den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. […] Einer schrieb mir – und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!"

Macht weglachen

Eine Selbstermächtigung des Volkes gegenüber einer um sich selbst kreisenden Staatsführung. Auch Lothar Bisky sprach an diesem Tag am Alexanderplatz. In einem Interview erklärte der die besondere Stimmung, von denen die Menschen im Herbst 1989 in der DDR getragen wurden: "Ich glaube gar nicht, dass der 4. November so glorifiziert wird. Man hat damals einfach auch gelacht über eine Macht, die ja noch präsent war. Und das finde ich gar nicht so schlecht, wenn man eine Macht weglachen kann." Dass es dann so schnell ging, damit hatten wohl die wenigsten der Demonstrierenden gerechnet. Am 8. November trat das Politbüro der SED geschlossen zurück. Am 9. November fiel die Mauer.


linksfraktion.de, 4. November 2014