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»Es gibt keinen Öko-Kapitalismus«

Im Wortlaut von Oskar Lafontaine,

Oskar Lafontaine hat aus der ostdeutschen PDS eine gesamtdeutsche Linkspartei gemacht. Jetzt will er ihr Chef werden. Ein Gespräch über Kinder, die Klimakatastrophe und kommunistische Klassiker

Oskar Lafontaine hat die Linke zurück in den Bundestag gebracht. Jetzt schickt er sich an, ihr Vorsitzender zu werden. VANITY FAIR traf ihn am Ostberliner Marx-Engels-Forum, wo die Erfinder des Kommunismus den Untergang der DDR überdauert haben.

Wer sich heute noch mit Marx und Engels fotografieren lässt, muss die beiden wirklich schätzen. Ihr Lieblingszitat der Philosophen lautet?

„Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Das bleibt immer aktuell, denn im gesellschaftlichen Dialog dürfen wir niemals vergessen, dass jeder aus seiner Lebenssituation heraus argumentiert. Deshalb redet der Reiche stets anders als der Arme.

Im Moment streitet unsere Gesellschaft über Kinderbetreuung. Ein Fall Sein und Bewusstsein nach Marx?

Ja auch. Wenn das Familienkonzept der Ministerin von der Leyen von der Wirtschaft gepriesen wird, dann muss man hellhörig werden. Die Industrie möchte, dass gut ausgebildete Frauen möglichst schnell wieder zurück in den Beruf gehen. Das erste Ziel der Familienpolitik sollte aber das Wohl des Kindes und der Eltern sein.

Hat die Linke nicht immer einen Ausbau der Betreuung gefordert, damit Frauen sich selbst verwirklichen können?

Mehr Krippenplätze zu schaffen ist richtig, weil viele Frauen ohne sie als Mütter heute gar nicht mehr zurechtkommen. Aber es kann nicht unser Ziel sein, dass alle Mütter möglichst schnell in den Beruf zurück sollen. Sie sollten vielmehr so lange bei ihren Kindern bleiben können, wie sie es wollen und wie diese sie brauchen.

Ihre Frau hatte eine Karriere und ist dann für die Kindeserziehung zu Hause geblieben. Heute fordert sie, dass zu Hause erziehende Mütter Geld vom Staat erhalten sollen.

Nicht nur Mütter! Auch Väter! Wir müssen darüber reden, was Arbeit ist. Arbeit ist nicht nur bezahlte Arbeit im Erwerbsleben, sondern auch die Erziehung der Kinder und die Pflege der Kranken und Alten in der Familie. Es ist eine Beleidigung, wenn Mütter, die Kinder erziehen und Kranke pflegen, immer wieder gefragt werden: Arbeiten sie eigentlich? Eine linke Forderung ist nicht, dass alle einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen. Eine linke Forderung ist, dass auch die gesellschaftlich wichtige Arbeit in der Familie bezahlt und sozialversichert wird. Damit hätten Männer und Frauen, die sich um die Familie kümmern, auch eine unabhängige, sichere Existenz.

Das ist eine schöne Idee, wie sie nur in einer Wohlstandsgesellschaft gedacht werden kann. Müssen Sie nicht zugeben, dass wir eigentlich in der besten aller möglichen Welten leben?

Wer ist „wir“? Sind die Verhungernden in Afrika „wir“? Sind die Opfer der Kriege im Vorderen Orient „wir“? Die jetzige Wirtschaftsordnung führt zu Krieg, zu Hunger und Umweltzerstörung. Dafür muss ich nicht Marx lesen, da reicht meine eigene Beobachtung: Beim Krieg im Irak etwa geht es mitnichten um Demokratie und Menschenrechte, sondern um Rohstoffe und Absatzmärkte.

Die Abwendung der Klimakatastrophe scheint die entscheidende Frage der Menschheit. Gibt es darauf eine linke Antwort?

Ja. Die Linke sagt: Die jetzige Wirtschaftsordnung führt zwangsläufig zur Klimakatastrophe. Ohne eine Zähmung des Kapitalismus werden wir das Klima nicht retten können. Die Grünen hingegen haben als neues Ziel eine „Grüne Marktwirtschaft“ ausgegeben. Sie sind in das Lager des Neoliberalismus übergelaufen. Damit hören sie streng genommen auf, eine Umweltpartei zu sein. Es gibt keinen Ökokapitalismus.

Aber der Emissionshandel, die Verteuerung von Benzin, steuerliche Anreize für sparsame Autos - das sind doch alles marktwirtschaftliche Ansätze.

Ja, aber die ökologische Frage ist mit der sozialen Frage untrennbar verbunden. Und die Antwort ist ganz einfach: Die Steuerung des Ressourcenverbrauchs über den Preis ist sinnvoll. Sie setzt aber voraus, dass sich Renten und Löhne in Deutschland entwickeln wie im europäischen Ausland, etwa in Schweden. Wäre das schon heute der Fall, hätten Rentner und Arbeitnehmer real 33 Prozent mehr.

Was hat der Spritpreis mit den Renten zu tun?

Jede Preissteigerung muss den Bezug haben zum Einkommen von Rentnern, Arbeitern und denen, die Sozialleistungen empfangen. Die wollen auch Auto fahren.

Wir wollen doch, dass weniger Auto gefahren wird.

Ja, aber alle sollen weniger fahren: nicht nur die Armen, während die Reichen weiter wie bisher ihre dicken Schlitten spazieren fahren.

Marx und Engels formuierten eine Utopie für die ganze Welt. Heute verteidigt die Linke nur noch nationalen Egoismus: Sie haben Angst, dass deutsche Arbeitsplätze ins Ausland abwandern.

Unsere Volkswirtschaft erwirtschaftet große Überschüsse im Export. Eine solche Volkswirtschaft muss das verdiente Geld wenigstens teilweise im Ausland reinvestieren. Dabei werden auch Arbeitsplätze verlagert. Etwas ganz anderes aber ist, wenn - wie etwa bei BenQ - das Management die Belegschaft erpresst. Diese Firma hatte einen Personalkostenanteil von nur fünf Prozent. Trotzdem hat das Management die Arbeitnehmer genötigt, damit der Betrieb angeblich wettbewerbsfähig werde, auf Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld zu verzichten: nur, um am Ende einen Scherbenhaufen anzurichten. Das sind die Auswüchse des Kapitalismus, die das System selbst in Frage stellen.

Menschen machen Fehler. Manager auch - oder?

Fehler schon. Aber das war kein Fehler, sondern glatter Betrug. Und BenQ ist kein Einzelfall. Betrugsmanöver des Managements gegenüber der eigenen Belegschaft haben solche Ausmaße erreicht, dass sich der Gesetzgeber überlegen muss, ob er sie nicht unter Strafe stellt. Das ist Wirtschaftskriminalität und sollte auch so behandelt werden. Dann würde sich mancher Manager zweimal fragen, ob er der Belegschaft unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Verzicht auf Lohnbestandteile abpresst.

Manager im Knast! Das klingt tatsächlich nach der Diktatur des Proletariats. Wenn Sie könnten, wie sie wollen: Welche zehn Maßnahmen ergriffen Sie zuerst?

Erstens: Unsere Truppen aus Afghanistan zurückziehen. Zweitens: Unsere Außenpolitik wieder auf die Grundlage des Völkerrechts stellen. Drittens: Unsere Flugplätze für Kriegsmaschinen auf dem Weg in den Irak sperren. Viertens: Die Rente mit 67 stoppen. Fünftens: Das Arbeitslosengeld I wieder länger zahlen. Sechstens: Den Mindestlohn von 8 Euro einführen. Siebtens: Die Vermögenssteuer wieder erheben. Achtens: Mit der Erbschaftssteuer sicherstellen, dass die ungleiche Vermögensverteilung in unserem Land nicht immer weiter zunimmt. Neuntens: Hartz IV zurücknehmen. Zehntens: Das Recht auf politischen Streik einführen. Mir fiele noch viel mehr ein. Für all das bräuchten wir im Übrigen keine Diktatur. Alle Umfragen zeigen: Das sind die Forderungen der Menschen. Wir leben in der paradoxen Situation, dass die Mehrheit im Bundestag permanent gegen die Mehrheit im Volk entscheidet.

Sie spielen doch nur den roten Mann! Die Linkspartei gehört doch längst zum politischen Establishment und betreibt in Berlin, wo sie mitregiert, die gleiche Spar- und Privatisierungspolitik wie alle anderen.

Wir reden kritisch mit unserem Berliner Landesverband. Natürlich kann es im Detail unterschiedliche Auffassungen geben, aber es gibt Dinge, die Linke einfach nicht tun. Nehmen Sie die Privatisierung: Der aktuell andauernde Verkauf von Krankenhäusern, Stadtwerken, Wasserbetrieben, öffentlichem Nahverkehr und Wohnungen ist fatal, weil damit immer ein Abbau an Demokratie verbunden ist. Weiter dürfen Linke Sozialabbau nicht zustimmen und auch keinem Personalabbau im öffentlichem Dienst. Wir haben heute in Deutschland weniger öffentlich Beschäftigte als in Westdeutschland vor dem fall der Mauer.

Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck wäre demnach kein Linker?

Auf die Idee bin ich auch nicht gekommen. als wir noch in einer Partei waren.

Tony Blair: kein Linker?

Oh Gott.

Hugo Chávez?

Chávez ist ein Linker. Was er zurzeit in Venezuela an Verstaatlichung von Strom- und Telefonnetzen betreibt, war allerdings auch im rheinischen Kapitalismus der alten Bundesrepublik eine Selbstverständlichkeit.

Fidel Castro? Ein Linker?

Castro hat in Kuba im Gesundheitssystem und bei der Volksbildung beachtliche Leistungen vollbracht. Er tut sich aber schwer mit den bürgerlichen Freiheitsrechten wie Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Das liegt auch in der Verantwortung der USA, die oppositionelle Kräfte in Kuba mit Millionensummen finanzieren und zu Handlungen anstiften, die auch in den USA strafbar wären.

Die Linkspartei kommt aus der SED, die früher bürgerliche Freiheiten in Deutschland unterdrückt hat. Haben Sie sich nicht in schlechte Gesellschaft begeben?

Die Linkspartei hat sich erneuert. Viele Junge sind dazu gekommen. In schlechter Gesellschaft bin ich im Bundestag, wo ich mit einer Regierung konfrontiert bin, die die Neue Linke vom Verfassungsschutz beobachten lässt. Das ist die Praxis von Diktaturen.

Deutschland streitet gerade um den Umgang mit einer anderen linken Vergangenheit: der RAF.

Was ist Terrorismus? Die Definition steht im Gesetz: „Terrorismus ist das rechtswidrige Anwenden von Gewalt, um politische Ziele durchzusetzen.“ Wir verurteilen jeden Terror: ob er von der früheren RAF ausgeübt wurde oder heute von Bush und Blair im Irak.

CDU-Politiker fordern, es dürfe keine Gnade für den Gefangenen Christian Klar geben, bevor er nicht öffentlich Reue zeigt.

Die Konservativen haben kein Verhältnis zum Rechtsstaat. Das gilt beim Bruch des Völkerrechts auf internationaler Ebene, und es gilt hier: Sie instrumentalisieren die Frage nach Begnadigung oder vorzeitiger Entlassung für eine politische Debatte. Der Rechtsstaat zeichnet sich aber dadurch aus, dass Häftlinge gleich behandelt werden unabhängig davon, welche politische Meinung sie haben.

Im März vereinigen sich die Linkspartei und die WASG. Wann geben Sie bekannt, dass Sie für den Vorsitz kandidieren?

Ich warte ab, bis Programm und Satzung verabschiedet sind. Ich strebe nichts mehr an, bin aber aufgefordert worden, mir das zu überlegen.

In der DDR haben überzeugte Kommunisten hier am Denkmal von Marx und Engels sogar ihre Hochzeitsfotos machen lassen. Wird die Ehe von Oskar Lafontaine und der Linkspartei eher eine Liebesheirat oder eine Vernunftehe?

Wir sind uns nicht in allem einig, aber in einem auf jeden Fall: Wir brauchen politischen Nachwuchs, mehr junge Leute. Wenn das gelingt, war es eine Liebesheirat.

Von Robin Alexander

Vanity Fair, 15. März 2007