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»Es gibt keine schlüssige Gesamtstrategie gegen Antisemitismus«

Im Wortlaut von Petra Pau,

Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau zum Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus »Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze«, der am 23. Januar in Berlin vorgestellt wird

Eine Expertenkommission präsentiert ihren Bericht über Antisemitismus in Deutschland und Sie sind dabei?

Petra Pau: Aus jeder Fraktion ist eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter dabei. Der Bericht geht auf einen Beschluss des Bundestags 2008 zurück: "Antisemitismus ächten, jüdisches Leben stärken".

Gut Ding will offenbar Weile haben?

Die über 200 Seiten des Berichtes finden sich im Web-Angebot des Bundestages. Ich empfehle sie.

Was sagt der Befund?

Antisemitische Klischees sind bei rund 20 Prozent der Bevölkerung präsent und jederzeit aktivierbar. Das ist bedrohlich.

Gibt es Gruppen mit besonders starkem Judenhass?

Ja, natürlich, bei Rechtsextremen gehört Antisemitismus zur Gruppennorm.

In Ostdeutschland sei Antisemitismus ausgeprägter als in Westdeutschland, höre ich manchmal. Dabei leben dort weniger Jüdinnen und Juden.

Das ist ein doppelter Denkfehler. Erstens ist Antisemitismus eine menschenfeindliche Ideologie, die keiner konkreten Jüdinnen und Juden bedarf. Zweitens ist wiederholten wissenschaftlichen Studien zu entnehmen, dass der Osten leider aufholt und beim Antisemitismus inzwischen beim Westniveau angekommen ist.

Und bei Linken?

Antisemitische Einstellungen gibt es in allen Schichten der Bevölkerung und in allen Parteien. Deshalb taugt das Thema auch nicht zum parteipolitischen Streit.

Meinen Sie damit die Bundestagsdebatte im vorigen Sommer über Antisemitismus bei der LINKEN?

Die war unterirdisch. Ich habe mich geschämt und gefragt, was Jüdinnen und Juden wohl davon halten mögen.

Und?

Mir haben danach einige erzählt, dass sie über so viel politische Unkultur fassungslos den Kopf geschüttelt hätten.

Welche Lebensbereiche hat die Expertenkommission untersucht?

Nahezu alle: Politik, Schule, Medien, Alltag, Sport und so weiter. Zum Befund gehört auch, dass antisemitische Beleidigungen und Drohungen zunehmend offener ausgesprochen werden, zum Beispiel beim Fußball.

Zu welchem Fazit kommt die Expertengruppe?

Es gibt keine schlüssige Gesamtstrategie gegen Antisemitismus. Diese Einschätzung teile ich. Sie trifft übrigens auch auf den Kampf gegen Rechtsextremismus zu.

Was soll nun werden?

Ich werbe erstens für eine gründliche Debatte im Plenum des Bundestags - ohne Parteiengezänk. Zweitens wünsche ich, dass alle Fachpolitiker diesen Bericht lesen, nicht nur die Innenpolitiker. Und schließlich hoffe ich, dass die Expertengruppe weiter arbeitet, unter entsprechenden Bedingungen.

Hatte sie die bisher nicht?

Sie hatte sich nicht beklagt. Aber allein der Umstand, dass sie vom Innenministerium betreut wurde, zeugt von einem Missverständnis.

Wieso?

Ich verweise noch mal auf die bundespolitischen Debatten, nachdem die Nazi-Mordserie publik wurde. Fast alles dreht sich seither um Polizei, Geheimdienste, Justiz. Das greift viel zu kurz. Es geht um gesellschaftliche Phänomene und deshalb müssen präventiv alle Ressorts und Ressourcen gebündelt werden.

Interview: Rainer Brandt

linksfraktion.de, 22. Januar 2012