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»Es gibt keine Höchstgrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen«

Interview der Woche von Ulla Jelpke,

Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, vermeintlichen Asylmissbrauch sowie angebliche Überlastung durch Flüchtlinge und die Debatte um ein neues Einwanderungsgesetz

 

Die Serie von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und Flüchtlinge reißt nicht ab. Am Freitag wurden in Greitz in Thüringen vier syrische Asylbewerber bei einem Angriff verletzt, in Brandenburg an der Havel wurde am Sonntag vor der Wohnungstür einer Flüchtlingsfamilie Feuer gelegt, in Dresden flogen Steine auf eine Unterkunft. Auf das Auto des linken Freitaler Stadtrats Michael Richter wurde ein Sprengstoffanschlag verübt. Was kann, was muss gegen Gewalt getan werden, wenn Appelle an den Anstand offenbar nicht fruchten?

Ulla Jelpke: Brandstiftung und Mordversuche haben mit mangelndem Anstand nichts zu tun. Neben einer konsequenten Ermittlung und strafrechtlicher Verfolgung dieser Übergriffe ist es vor allem wichtig, sie auf politischer Ebene ganz klar zu verurteilen und nicht zu verharmlosen. Keinesfalls darf – wie es leider gerade des Öfteren der Fall ist – von politisch Verantwortlichen und der Presse weiter Öl ins Feuer gegossen werden, zum Beispiel mit Äußerungen über vermeintlichen Asylmissbrauch und der angeblichen Überlastung Deutschlands mit der aktuellen Flüchtlingssituation. Es kann auch nicht sein, dass Asylsuchende je nach Herkunftsland oder Anerkennungschancen in gute und schlechte aufgeteilt werden. Ein solches Vorgehen hetzt nur die sogenannten "besorgten Bürger" und Nazis auf.

Was halten Sie von dem Vorschlag einer Bannmeile um Flüchtlingsheime, den der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt ins Gespräch hat?

Diesem Vorschlag stehen wir kritisch gegenüber. Zwar verfolgen wir das Ziel, Flüchtlinge vor Übergriffen und auch vor rechter Hetze konsequent zu schützen. Jedoch ist die Errichtung einer Bannmeile hierfür keine dauerhaft erfolgversprechende Maßnahme. Versammlungen können im jeweiligen Einzelfall mit entsprechenden Auflagen zum Schutz der Flüchtlinge versehen werden. Ein pauschales Demonstrationsverbot oder eine Bannmeile wäre ein erheblicher Grundrechtseingriff und daher vermutlich weder vertretbar noch durchsetzbar. Eine starke Gegendemo halte ich da allemal für besser.

2015 werden laut Prognose der Bundesregierung 450.000 Asylbewerber erwartet – mehr als doppelt so viel wie 2014. Das bereitet nach wie vor Probleme bei der Unterbringung. Wer ist für die Versäumnisse verantwortlich?

Hier ist klar zu sagen, dass sich der Bund viel zu lange aus seiner Verantwortung gestohlen hat. Die Länder und Kommunen haben schon lange vor der nun eingetretenen Überlastung gewarnt und auch der Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland war bereits lange vorauszusehen. Dennoch wurden konkrete Maßnahmen und finanzielle Unterstützung immer wieder verschoben und vertagt. Die LINKE hat von je her eine Entlastung der Kommunen gefordert und setzt sich auch mit dem aktuellen Antrag "Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen grundlegenden Wandel in der Asylpolitik" dafür ein, dass der Bund die Kosten für Unterbringung, Betreuung und Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden übernimmt.

Die aktuelle Flüchtlingskrise hat die Debatte um ein Einwanderungsgesetz befeuert. Innenminister de Maizière hat es bislang für überflüssig gehalten, bei der CSU heißt es man habe bereits ein "modernes und flexibles Zuwanderungsrecht“, die Kanzlerin Merkel hat sich nun für ein Einwanderungsgesetz ausgesprochen. Wie bewerten Sie den Kurswechsel der Kanzlerin?

Für die Koalition steht bei der Diskussion um das Einwanderungsgesetz das Problem des Fachkräftemangels in Deutschland im Vordergrund. Die Kanzlerin betonte kürzlich, Deutschland wäre nach den USA das "zweitbeliebteste Einwanderungsland". Diese Beliebtheit ist aus ihrer Sicht vermutlich jedoch nur dann erfreulich, wenn es um die Einwanderung von Migranten geht, die einen Nutzen für das deutsche Wirtschafts- und Rentensystem mit sich bringen – das hat nichts mit dem Gedanken einer tatsächlichen Willkommenskultur zu tun. Es ist insofern gar kein Kurswechsel, der die Flüchtlings- oder Asylpolitik generell betreffen würde – leider, denn ein solcher Kurswechsel ist längst überfällig. 

SPD und Grüne wünschen sich eine Regelung der Einwanderung durch ein Punktesystem, die den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen entspricht. DIE LINKE lehnt bislang eine solche selektive Migrationspolitik ab. Warum?

Wir lehnen ein Punktesystem bei der Einwanderung generell ab, weil es Menschen pauschal nach ihrer Nützlichkeit für den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftssystem eines Staates kategorisiert und bewertet. Einwanderer werden so zu einer bloßen Ressource herabgesetzt. Diese soziale Auslese widerspricht im Fall von Flüchtlingen darüber hinaus ganz klar dem Grundprinzip des Asylrechts. Dieses spricht jedem Flüchtling unabhängig von seinem vermeintlichen ökonomischen Nutzen ein Recht auf Zuflucht, Schutz und eine Integrationsperspektive zu.

Manche politische Beobachter glauben aber, dass ein Einwanderungsgesetz das Asylsystem entlasten könnte, wenn es denn eine echte Alternative anböte...

Das Einwanderungsgesetz richtet sich – so wie es geplant ist – weder an EU-Bürger noch an Asylsuchende. Innerhalb der EU gilt die Freizügigkeit, für die Asylsuchenden gelten vorrangig die jeweiligen asylrechtlichen Regelungen. Daher wäre ein Einwanderungsgesetz im Hinblick auf das Asylsystem weder eine Alternative noch eine Entlastung. Ob ein Mensch in Deutschland Asyl erhält, hängt davon ab, ob Asylgründe nach dem Grundgesetz oder der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen. Faktoren wie Ausbildung oder fachliche Qualifikation spielen bei dieser Entscheidung keine Rolle. Ein Einwanderungsgesetz kann auch nicht die Aufnahme von Flüchtlingen regulieren – es gibt keine Höchstgrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen und es darf auch keine geben.

Offene Grenzen für alle – ist das nicht ein frommer Wunsch, vielleicht sogar ein gefährlicher, angesichts der Realität der deutschen Gesellschaft?

Das Ziel der offenen Grenzen mag ein langfristig zu erreichendes sein, aber es ist sicher kein frommer oder gar gefährlicher Wunsch. Gefährlich ist vielmehr ein starres Beharren auf Grenzen – in den Köpfen und auf der Landkarte. Das sieht man bereits an den tausenden Toten, die die europäische Abschottungspolitik auf dem Mittelmeer bereits gefordert hat. Gefährlich ist auch der Anstieg von Fremdenfeindlichkeit und rassistischen Übergriffen, wie wir in derzeit auch in Deutschland erleben müssen. Dem gilt es entschieden entgegenzuwirken, wie es ja auch schon viele Bürgerinnen und Bürger in Form von tatkräftiger Solidarität mit Flüchtlingen tun. Ein offener Dialog und Aufklärung statt ständige Panikmache würden in Deutschland erheblich zu einer Willkommenskultur beitragen, die letztlich ein wichtiger Schritt hin zu offenen Grenzen wäre.


linksfraktion.de, 28. Juli 2015