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Erinnerung mit konkretem Handeln verbinden

Im Wortlaut von Gesine Lötzsch,

Lernen und handeln – nachdenken über die Reichspogromnacht

Vier Stolpersteine in Berlin zur Erinnerung an von Nazis verfolgte und ermorderte Juden werden geputzt

 

 

Von Gesine Lötzsch

 

Politikerinnen und Politiker aller demokratischen Parteien werden Sonnabend daran erinnern, dass am 9. November 1938 über 1 400 Synagogen und Betstuben sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe zerstört und dass über 30 000 Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager deportiert wurden. Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen an diesen Veranstaltungen teilnehmen.

Ich werde am Sonnabend Stolpersteine im Berliner Stadtteil Karlshorst putzen. Immer wieder werden Stolpersteine von Neonazis beschädigt oder beschmiert. Es ist erfreulich, dass gerade Jugendliche immer wieder dabei sind, wenn es um das Verlegen und das Pflegen dieser Stolpersteine geht.

Ich frage mich, ob die Erinnerung an die Pogromnacht und die Verbrechen der Nazis dazu führt, dass sich auch das Handeln der Menschen radikal ändert. Bei Anti-Nazidemos in Dresden und anderen Städten bin ich froh, dass viele Menschen sich den Nazis entgegen stellen. Doch Sorge macht mir das Ausbleiben des Handels vieler Zuständiger. Ich denke an Mitarbeiter des Thüringer Verfassungsschutzes. Sie haben die NSU-Mörder geschützt und haben ihre Verhaftung verhindert. Warum wird eine solche Institution nicht einfach aufgelöst?

Ich denke an die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die keine Anklage wegen des Massakers vor 68 Jahren im italienischen Sant' Anna di Stazzema erheben will, obwohl die Täter von einem italienischen Gericht rechtskräftig verurteilt wurden. Damals hatten Angehörige der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" in dem Bergdorf 560 Zivilisten getötet.

Ich denke an Bundespräsident Gauck, der auf seinen Reisen pastorale Worte findet, wenn es um die Verbrechen der Nazis geht, der aber bis heute nicht die Kraft aufgebracht hat, Beate Klarsfeld mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen. Beate Klarsfeld fand in der ganzen Welt Anerkennung für ihr Lebenswerk. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, faschistische Massenmörder, die von der bundesdeutschen Justiz nicht verfolgt wurden, zu überführen. Sie war dabei sehr erfolgreich. Ich frage mich, warum der Bundespräsident nicht den Mut hat, dieses Engagement von Frau Klarsfeld zu würdigen.

Wenn die Erinnerung an die Pogromnacht vor 75 Jahren nicht erstarren soll, dann muss die Erinnerung mit konkretem Handeln verbunden werden. Ich organisiere zusammen mit anderen Abgeordneten seit vielen Jahren Jugendreisen in europäische Länder, die von den Nazis besetzt waren. Vergangenes Jahr waren wir in Italien. Wir trafen dort Enrico Pieri. Er hat das Massaker in Sant´ Anna di Stazzema als Zehnjähriger miterlebt und seine Familie verloren. Er konnte sich verstecken und so überleben. Seine Geschichte und die des Ortes sind grauenvoll und sehr berührend. Er hatte im Prozess gegen die Mörder ausgesagt. Es sind die Mörder, die in Deutschland unbehelligt leben, die nicht ausgeliefert werden und gegen die die Staatsanwaltschaft Stuttgart keine Anklage erheben möchte. Der Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter geht 2013 an Enio Mancini und Enrico Pieri. Die beiden Überlebenden des NS-Massakers im italienischen Sant’ Anna werden dafür ausgezeichnet, dass sie sich seit Jahren für die juristische Aufarbeitung des Verbrechens und für internationale Verständigung einsetzen. Diese Auszeichnung ist eine gelungene Reaktion auf das Versagen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft.

 

linksfraktion.de, 8. November 2013