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70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands: Gregor Gysi spricht vor mehr als 700 Gästen


Von Gisela Zimmer

Das Atrium im Paul-Löbe-Haus war bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als 700 Gäste sind für das Glasfoyer nicht zugelassen. Schon viele Tage zuvor war die Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus ausgebucht. Wer kam, wollte sie noch einmal sehen und hören: die Zeitzeugen, die auf Grund ihres Alters immer weniger werden. Kurt Gutmann, geboren 1927 und jüdischer Herkunft, schaffte es als Kind gerade noch nach Schottland auszuwandern. Werner Knapp, Jahrgang 1921, wuchs in einem kommunistischen Elternhaus auf, floh ins benachbarte Tschechien und der 1923 geborene Moritz Mebel emigrierte mit den Eltern nach Moskau. Den drei Männern gemeinsam war, dass sie 1945 in Uniform nach Deutschland zurückkehrten – in britischer, tschechischer und russischer. Ihre Geschichten erzählen, was Kriege bis heute Menschen antun: Verlust von Familie, Heimat, Zerstörung, Hunger, Angst, Tod, Vernichtung, Trauer und Traumata. Heute sind die drei weit über 80 beziehungsweise 90 Jahre. Ihre Erlebnisse hat DIE LINKE festgehalten, in einem Film. Er endet mit einem leisen Lied, das Werner Gutmann, der als einziger seiner Familie den Wahnsinn des Faschismus überlebte, noch einmal mitsingt: "Wer lässt sich schon gern vertreiben aus dieser bunten Welt." Er und die beiden anderen Männer sitzen als Ehrengäste in der ersten Reihe an diesem Abend. Der Beifall für sie will kaum enden.

»Noch gibt es kein Europa der Völker«

Dann reden Oskar Lafontaine, Wladimir Grinin, der Botschafter der Russischen Förderation, Nikolai Arefiev, er gehört der Staatsduma in Moskau an, und Manolis Glezos aus Griechenland, der Mann, der 1941 die verhasste Hakenkreuzfahne von der Akropolis holte und noch heute mit 92 Jahren die linke Syriza im Europaparlament vertritt. Er, der kleine, fast zarte Mann, sprüht vor Leidenschaft. Sagt, dass diese 70 Jahre nach der Befreiung ein guter Anlass zum Lachen und Tanzen sind. Das alle das auch feiern sollten. Dann jedoch fügt er ein "Aber" hinzu. "Nachdenken" sollen wir. Noch gäbe es kein Europa der Völker, keins des Friedens. Noch wären die Träume und Versprechen von Jalta nicht erfüllt. Weder seien die Völker dieser Welt befreit, genauso wenig wie die Würde der Menschen und ihre Rechte garantiert würden. Am Ende seiner Rede warnt Manolis Glezos das Publikum mit einem einfachen Satz: "Wir brauchen keine Retter."

Zuvor hatte bereits Oskar Lafontaine an die ursächliche Aufgabe der Linken erinnert. Nämlich das "hohe Gut der Menschenwürde" zu schützen, und dass Politik in der Pflicht steht, den Schwur von Buchenwald umzusetzen und "eine Welt des Friedens und der Freiheit" zu bauen. Nachdenklich, bitter wurde es als der Autor und Zeitzeuge Alexander Gelman ans Mikrofon tritt. Als Kind lebte er im Ghetto, von 14 Familienmitgliedern überlebten nur nur er und sein Vater. Er war sein Leben lang ein Wanderer zwischen den sowjetischen Vielvölkerwelten. Vor allem zwischen der Ukraine und Russland. Der jetzige Krieg zerreißt ihm das Herz. Er sät Hass und Feindschaft zwischen zwei Völkern, zwischen Menschen, die doch einst unter einem Dach lebten.

»Der Krieg wird nie vergessen«

"Wir waren Kinder", Kriegskinder – davon erzählen Inge Heym, Schriftstellerin und Frau des verstorbenen Stephan Heym, Luc Jochimsen, Buchautorin und einstige Bundestagsabgeordnete der Linken, und der Schauspieler Rolf Becker. Es sind ihre ganz privaten Geschichten und Erlebnisse. Was der Krieg in ihnen angerichtet hat, das konnten alle drei erst später wirklich bemerken, aussprechen, aufschreiben. Die inneren Wunden von damals wollen bis heute nicht verheilen. Luc Jochimsen wird am 9. Mai 1945 in ihr Tagebuch schreiben: "Jetzt ist Frieden. Das Leben geht weiter, aber der Krieg wird nie vergessen." Das Publikum im Atrium ist ganz still, man könnte eine Stecknadel fallen hören.

Einfühlsam moderiert wird der Abend von Sevim Dagdelen. Zwischen den Reden, den Filmausschnitten, der Lesung, auch aus dem Büchlein von Stéphane Hessel "Empört euch", spielt die Rhythm & Melody Concertband der Schostakowitsch Musikschule. Sie spielen russische, britische, amerikanische und französische Stücke. So wie Gesine Lötzsch gleich zu Beginn wird auch Gregor Gysi am Ende des Abends daran erinnern, dass der 8. Mai als Tag der Befreiung von vielen deutschen Politikerinnen und Politikern hingenommen bis akzeptiert wurde. Wenn auch spät, erst nachdem der inzwischen verstorbene Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner denkwürdigen Rede diesen Tag als solchen benannte. DIE LINKE stellte immer und immer wieder den Antrag, diesen 8. Mai als denkwürdigen Tag in der deutschen Geschichte auch zum gesetzlichen Gedenktag zu erheben. Bislang vergeblich. Am späten Abend, als die 700 Veranstaltungsbesucher das Atrium im Bundestag verließen, wusste noch niemand, wie die Abstimmung darüber am Tag danach im Parlament ausfallen würde. Gesine Lötzsch warb am Freitag im Parlament für den Antrag der Fraktion. Doch auch an diesem 8. Mai wurde der Antrag abgelehnt. CDU/CSU und SPD stimmten dagegen, die Grünen enthielten sich.

linksfraktion.de, 8. Mai 2015

 

Mitschnitte der Reden auf unserem YouTube-Kanal
  • Gesine Lötzsch: »Der 8. Mai muss Gedenktag werden« YouTube
  • Gregor Gysi: »Was ist aus den Sehnsüchten von damals geworden?« YouTube
  • Oskar Lafontaine: »Hohes Gut der Menschenwürde in den Köpfen verankern« YouTube
  • Wladimir M. Grinin: »Wir dürfen nie und nimmer vergessen« YouTube

Die Liste der Videos wird ergänzt.