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Elemente der Verfassungsklage gegen den Vertrag von Lissabon

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DIE LINKE reicht eine Verfassungsbeschwerde und eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht ein. Klage-Bevollmächtigter ist der Rechtswissenschaftler Prof. Andreas Fisahn. Im Mittelpunkt der Verfassungsbeschwerde steht das grundrechtsgleiche Recht aus Artikel 38 GG, das auf dem in Artikel 20 Abs. 1 niedergelegten Demokratiegebot beruht. Auch im Organstreitverfahren geht es um das Demokratieprinzip, insbesondere im Hinblick auf die im Bundestag verbleibenden Gesetzgebungsrechte und die demokratische Legitimation der EU-Gesetzgebung. Ferner wird gerügt, dass dem Sozialstaatsprinzip nicht genüge getan ist und das Angriffskriegsverbot insbesondere aufgrund der Aufrüstungsverpflichtung unbeachtet bleibt.

  1. Das Zustimmungsgesetz gegen den Vertrag von Lissabon ist verfassungswidrig, weil es den Schutz der menschlichen Würde unter den Vorbehalt der Dienstleistungsfreiheit stellt. Nach dem Grundgesetz ist die Würde des Menschen unantastbar. Das bedeutet, dass die Menschenwürde als oberster Wert der Verfassung weder durch ein Gesetz eingeschränkt werden noch mit anderen Rechtsgütern wie den Grundrechten abgewogen werden darf. Diese Bestimmung wird durch die sog. Ewigkeitsklausel des Art. 79 III GG besonders geschützt. Sie darf nicht, auch nicht mit verfassungsändernden 2/3 Mehrheiten geändert oder gestrichen werden. Der Europäische Gerichtshof ist jedoch seit kurzer Zeit dazu übergegangen, die Grundrechte, darunter die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einschließlich des Streikrechts mit den sog. Grundfreiheiten abzuwägen. Er proklamiert dabei explizit, dass auch die Menschenwürde abzuwägen sei. Der Gerichtshof habe entschieden, wird ausgeführt, „dass die Ausübung der dort betroffenen Grundrechte, nämlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Menschenwürde, nicht außerhalb des Anwendungsbereichs der Bestimmungen des Vertrags liegt und dass sie mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte (das sind u.a. die Grundfreiheiten) in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen muss.“ (EuGH v. 11.12.2007, Rs. C 438/05, Rn. 46) Der Gesetzgeber hätte dem Lissaboner Vertrag (LV) nur zustimmen dürfen, nachdem klargestellt worden wäre, dass auch nach Europäischem Recht die Menschenwürde absolut und uneinschränkbar geschützt ist.
  2. Das Zustimmungsgesetz verstößt gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 GG, weil für die Europäische Rechtsetzung kein ausreichendes Niveau der demokratischen Legitimation geschaffen wird. Für jeden Bürger und jede Bürgerin gewährleistet Art. 38 GG u. a. das subjektive Recht auf demokratische Teilhabe. Der Lissaboner Vertrag sieht erweiterte Entscheidungsmöglichkeiten für die Union vor, die mit Grundrechtsbeschränkungen für die Bürger verbunden sind. Diese bedürfen der demokratischen Legitimation. Eine solche Legitimation erfolgt nicht über die nationalen Parlamente, weil diese durch die Zustimmung zu den Verträgen, die Politik der Union nicht hinreichend bestimmen und legitimieren können. Die Verträge regeln nur die Grundzüge. Viele, auch wesentliche Einzelfragen, über die in Grundrechte der Bürger eingegriffen wird, werden nach dem LV jedoch über die Union geregelt. Gleichzeitig mangelt es an einem hinreichenden Niveau der demokratischen Legitimation durch das Europäische Parlament. Trotz der Erweiterung seiner Rechte bleiben viele Kompetenzen ausschließlich beim Rat. Das Parlament hat weiterhin kein Initiativrecht. Der Rat gewährleistet kein ausreichendes Niveau demokratischer Legitimation, da er nur höchst mittelbar an die Willensbildung im Volk zurückgebunden ist. Die Demokratie befindet sich nach dem LV weiter auf dem Niveau des Deutschen Kaiserreiches von 1871 mit einer übermächtigen Exekutive und nicht auf dem Niveau des Grundgesetzes von 1949.
  3. Das Demokratieprinzip des Art. 20 GG ist auch deshalb in einer mit dem Art. 79 III GG unvereinbaren Weise beschränkt, weil der LV die Gemeinschaft auf eine marktradikale, neoliberale Politik festlegt. Das demokratische Prinzip der wechselnden Mehrheit verliert damit seine Substanz. Demokratie lässt sich u. a. charakterisieren durch die Möglichkeit des friedlichen Wechsels von Regierungen, die sich wiederum auf geänderte Mehrheiten in der Bevölkerung und im Parlament stützen. Ein solcher Wechsel der Mehrheiten muss die Möglichkeit eröffnen, einen Politikwechsel einzuleiten. Während das Grundgesetz nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG wirtschaftspolitisch neutral ist, legt der LV die Gemeinschaft auf eine marktradikale Konzeption fest, die selbst einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik enge Fesseln anlegt. Eine andere politische Mehrheit in der Bevölkerung Europas könnte deshalb nur über langwierige Prozesse zu einem Richtungswechsel in der Politik, insbesondere der Wirtschaftspolitik, führen. Damit wird die Substanz des demokratischen Verfahrens ausgehebelt. Die gegenwärtige Generation maßt sich an, die Zukunft aller folgenden Generationen normativ verbindlich festzulegen.
  4. Der Vertrag verstößt gegen das vom GG normierte und vom BVerfG konsequent eingeforderte Prinzip der Parlamentsarmee, das die Zustimmung des Bundestages vor dem Einsatz deutscher Streitkräfte verlangt. Die neu eingeführten Art. 42 ff EUV zielen auf eine gemeinsame Verteidigungspolitik der Union ab, die u. a. militärische Missionen im Ausland beinhaltet. Die Streitkräfte für diese Missionen sollen von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden. Nach Art. 42 IV EUV werden „Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel“ einstimmig vom Rat erlassen. Damit entscheidet die Exekutive über die Entsendung von Streitkräften, nicht die Legislative. Das Prinzip der Parlamentsarmee ist über „den Umweg Europa“ aufgehoben, ohne dass das Grundgesetz entsprechend geändert worden wäre.