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Foto: Rico Prauss

Eine schwere Geburt

Kolumne von Dietmar Bartsch,

Gabriel, Merkel und Seehofer bei der Vorstellung ihrer Koalitionsvereinbarung am 27. November 2013 in der Bundespressekonferenz, Foto: Uwe Steinert

 

Von Dietmar Bartsch, 2. stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE.

 

Mehr als neun Wochen nach der Bundestagswahl haben Union und SPD einen Koalitionsvertrag vorgelegt. Ob daraus letztlich Regierungspolitik wird, ist offen. Die Medien zeigen widersprüchliche Bilder aus der SPD-Basis. So bleibt es spannend und es steht zu vermuten, dass die Spitze der Sozialdemokratie kaum gestärkt aus der Mitgliederbefragung hervorgeht. Sie könnte einen Pyrrhussieg einfahren: „Noch so ein Sieg, und wir sind verloren“, soll ein König dieses Namens gesagt haben. In den Reihen der CDU hält sich der Jubel in Grenzen, allein Horst Seehofer strotzt vor Selbstgewissheit. DIE LINKE ist bereit, als stärkste Oppositionsfraktion die künftige Bundesregierung unter Druck zu setzen. Zu hoffen ist, dass der im September neu gewählte Bundestag wenigstens im neuen Jahr seine Arbeit richtig aufnehmen kann, woran ihn CDU/CSU und SPD bislang hinderten.

Unisono verkünden die drei an den Koalitionsverhandlungen beteiligten Parteien wortreich und wortgleich, der Koalitionsvertrag trage just ihre Handschrift. Das mag für dieses Papier der frommen Wünsche, Absichtserklärungen und Vorbehalte wohl sogar stimmen. Hier liegt kein großer Wurf auf dem Tisch, der einem den Atem verschlägt. Hier haben wir es mit einem romantischen Märchen im Stil und einer auf 180 Seiten aufgeblähten kurzatmigen Verwaltungsvorschrift in der Sache zu tun. Mehr Gerechtigkeit wird die nach langatmigen Verhandlungen entworfene Politik nicht bringen. Anders als im Wahlkampf verkündet, lässt die SPD die Chance verstreichen, einen Einstieg in die Umverteilung von oben nach unten zu finden. Im Koalitionsvertrag finden sich weder höhere Belastungen für die Reichsten im Lande, noch Entlastungen für die Mehrheit oder Zuwächse für jene, die auf soziale Leistungen angewiesen sind. Steuergerechtigkeit? Fehlanzeige. Die Abgabenlast für viele Menschen wird steigen, für sie wird künftig die Losung gelten: weniger Netto vom Brutto!

Nahezu jedem positiven Ansatz folgt der Pferdefuß. Ja, es wird einen Mindestlohn geben, aber in homöopathischen Dosierungen. Ja, es kommt die Mütterrente, aber finanzieren müssen sie allein die Beitragszahlerinnen und -zahler. Ja, eine Lebensleistungsrente ist völlig ok., aber die Zugangsbedingungen sind für viele faktisch unerreichbar und Ost-West-Unterschiede werden fortgeschrieben. Viele sinnvolle Wahlversprechen finden sich nicht wieder, etwa die Bürgerversicherung, Stoppzeichen gegen Mietwucher, der Abbau der Kalten Progression  oder die Senkung der Stromsteuer und eine staatliche Strompreisaufsicht. Kein Wort findet sich im Vertrag zu Volksentscheiden auf Bundesebene oder einem alsbaldigen Ende des Kooperationsverbotes in der Bildung. Anderes, so  die längst versprochene Ost-West-Rentenangleichung, wird auf die lange Bank geschoben oder – wie die Bekämpfung prekärer Beschäftigung – höchst zögerlich angegangen. Dafür werden fragwürdige Wahlversprechen nun angepackt. Paradebeispiel ist die Maut für „nicht in Deutschland zugelassene PKW“. An dieser verquasten Begrifflichkeit hat sich unlängst schon die Kanzlerin fast die Zunge gebrochen, um den wenig europafreundlichen Ansatz zu umfahren. Schließlich werden fragwürdige Praxen wiederbelebt oder beibehalten, zum Beispiel die „Öffentlich-Privaten Partnerschaften“ anstelle der erforderlichen Rekommunalisierung oder die „Mövenpick-Steuer“. Lang ist die Liste drängender Aufgaben, die nicht angefasst werden – vom Ausbau des sozialen Wohnungsbaus bis hin zur Renaturierung von Flüssen. Eine viel zu zögerliche Investitionspolitik wird nicht zur nötigen Belebung des Binnenmarktes führen und generell gilt, dass von so manchem Koalitionsversprechen nichts übrig bleiben wird, wenn sich die Konjunktur nicht wie erhofft entwickelt. Eine mit Lohnverzicht erkaufte Exportkraft kann auf Dauer kein akzeptabler Weg sein, schon gar kein pro europäischer.
 
Der Koalitionsvertrag trägt die Überschrift „Deutschlands Zukunft gestalten“. Dem wird er nicht gerecht, weil er ein Herangehen zeigt, das schon vor über 2000 Jahren auf Kritik stieß. Der römische Dichter Horaz höhnte über die Praxis der haltlosen Versprechungen: „Es kreißen die Berge, zur Welt kommt nur ein lächerliches Mäuschen”.