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»Ein schwerer Tag«

Kolumne von Lukrezia Jochimsen,

Von Luc Jochimsen, kulturpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Tagebucheintrag eines neunjährigen Kindes:
„Frankfurt am Main, den 8. Mai 1945
Heute um Mitternacht ist der Krieg zu Ende. Das heißt bedingungslose Kapitulation. Die Kirchenglocken läuten. Es ist endlich Frieden. Das ist ein schwerer Tag für alle Deutschen.“

Wie kommt das neunjährige Kind in diesem Augenblick zu dem Urteil, der 8. Mai sei ein „schwerer Tag für alle Deutschen“?
Der Vater hoffte jeden Tag, dass die Amerikaner uns endlich befreien würden. Er sagte „befreien“. Die Mutter betete jeden Abend, dass sie alle mit dem Leben davonkämen. Das Kind hatte nichts als Krieg erlebt seit seinem dritten Lebensjahr. Die Familie wurde in Düsseldorf ausgebombt, hatte alle Habe verloren, schwere Phosphorverbrennungen hatten sie erlitten, Monate nur im Keller zugebracht, ein Bombensplitter den rechten Oberschenkel des Kindes zerfetzt… Was also brachte es dazu, zu schreiben der 8. Mai sei ein „schwerer Tag für alle Deutschen“ - für es selbst also auch?

Das neunjährige Kind war ich, bin ich. Nach Jahrzehnten fand ich das Tagebuch wieder, das kein heimliches, privates Mädchentagebuch war, sondern ein Pflichttagebuch. Jeden Tag musste ich eine Seite vollschreiben und das Heft am Ende der Woche dem Vater vorlegen.

Das Tagebuch sollte die Hausaufgaben der Schule ersetzen, die es seit Monaten nicht mehr gab. Beim Wiederlesen zusammen mit den Eltern stießen wir auf den „schweren Tag“ und mein Vater meinte, es sei wohl Angst gewesen, die mich dies habe schreiben lassen. Die Angst vor dem, was nun kommen würde. Strafe, Rache,
Vergeltung … Groß war unsere Sehnsucht nach Frieden und die Hoffnung auf Befreiung - groß aber auch die Unsicherheit, was die Sieger machen würden mit uns. Und fast ungläubig stellten wir von Jahr zu Jahr an jedem 8. Mai fest, wie gut mit uns umgegangen wurde, wie schonend - wie auf die Zukunft setzend. In meiner Familie war die Erfahrung der totalen Niederlage ein Glück. Endlich konnte, durfte ein neues Leben beginnen. Ein Geschenk, das wir vielleicht gar nicht verdient hatten, das wir eigentlich nur annehmen konnten, in dem wir neu dachten im demokratischen Sinn, in den Pflicht - und Rechtspositionen von Verfassungen. Vor allem dachten, wie in anderen Ländern gedacht wurde - und so auch lebten. Weg von allem Nationalen.

Für meine Familie und mich blieb der 8. Mai der Feiertag im Jahr - entgegen der allgemeinen Stimmung in der Adenauer-Republik. Mein Vater hat mich früh gelehrt, die Widerstandskämpfer zu ehren und die Deserteure und in den Siegern unsere Hoffnung zu suchen.

Nach den allerersten Nachkriegsjahren wurde das übrigens immer schwieriger. Um uns herum veränderte sich die Sichtweise. Wir wurden wieder „wer“.

Wir wurden sogar Liebkind der Amerikaner. Krieg und totale Niederlage rückten in den Schatten der Geschichte. Und es bedurfte einer Bundespräsidentenrede vom 8. Mai 1985, damit der Begriff der Befreiung überhaupt wieder in die öffentliche Diskussion kam. Heute wird es höchste Zeit aus dem 8. Mai einen nationalen Feiertag zu machen, einen „schweren Feiertag“ - gerade deshalb so wichtig.