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»Ein Beweis für die Realitätsverweigerung der Bundesregierung«

Interview der Woche von Diana Golze,

Diana Golze, Sprecherin für Kinder- und Jugendpolitik und Leiterin des Arbeitskreises Arbeit, Gesundheit und Soziales der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Politik des sozialen Kahlschlags, die Folgen wachsender Ungleichheit, einen verbindlichen gesetzlichen Mindestlohn und die Notwendigkeit einer starken Opposition in und außerhalb des Parlaments


Der Wohlstand in Deutschland wächst, aber vor allem die Reichen werden immer reicher. Trotz Finanzkrise. Am unteren Ende bleiben die Menschen relativ arm. Das zeigt der in der vergangenen Woche veröffentlichte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Was sind die Gründe dafür?

Diana Golze: Die Ursachen liegen in der Politik der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre. Die Arbeitsmarktreformen, die unter Rot-Grün mit Hartz I bis IV begannen und unter den Bundesregierungen mit verheerendem Sozialabbau fortgesetzt wurden, stehen einer endlosen Litanei von Vergünstigungen für Großunternehmen und Spitzenverdiener gegenüber. Die zunehmende Privatisierung der Vorsorgesysteme im Gesundheits- und Pflegebereich und bei der Rente belastet die unteren Einkommensschichten. Hinzu kommt eine Steuerpolitik für Besser- und Spitzenverdiener. Kurz gesagt: Es fehlt seit Jahren an dem politischen Willen zu einem grundlegenden sozialpolitischen Kurswechsel, der soziale Sicherheit und Teilhabe am gesellschaftlich geschaffenen Reichtum für alle realisiert.

Die untere Bevölkerungshälfte besitzt gerade einmal ein Prozent des Nettovermögens. Mehr als 20 Prozent der Menschen arbeiten im Niedriglohnbereich. Wie viel soziale Ungleichheit, wie viel soziale Kälte hält eine Gesellschaft aus?

Die Zusammenhänge zwischen Armut und Gesundheit sind hinlänglich bekannt. Unser Gesundheitssystem ist gekennzeichnet durch das Zusammenstreichen der Pflichtleistungen und die Zunahme von Zuzahlungen – mit fatalen Folgen für Menschen mit geringem oder keinem Einkommen. Die Zusammenhänge zwischen Erwerbseinkommen und sozialem Status von Familien und der ausgrenzenden Wirkung auf die Bildungsbiografie ihrer Kinder sind ebenfalls hinlänglich bekannt. Die Folgen von Ausgrenzung und Ungleichheit kann man nicht nur bei Forschern wie Pickett und Wilkinson nachlesen, sie sind sichtbar und spürbar, wenn man sich auf unseren Straßen umschaut. In jedem Wirtschaftssimulationsspiel würde unsere Bundesregierung für ihr Handeln ein "Game over" zu lesen bekommen!

Wohin driftet die Mittelschicht?

Während in den Jahren von 1998 bis 2008 im oberen Bereich eine positive Lohnentwicklung erkennbar war, haben die untersten 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten reale Verluste erleiden müssen. Im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt es: "Eine solche Einkommensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.“ – diese Entwicklung nennt die Bundesregierung aber für die Politik "nur bedingt beeinflussbar". Das ist eine Verhöhnung der Betroffenen und ein Beweis für die Realitätsverweigerung der Bundesregierung. Die Begrenzung der Leiharbeit, eine gerechte Steuerreform, die kleine Einkommen ent- und die hohen belastet, und nicht zuletzt ein verbindlicher gesetzlicher Mindestlohn in Existenz sichernder Höhe wären Maßnahmen, die sofort angegangen werden könnten und der sogenannten Mittelschicht die bestehenden Existenzängste nehmen würde.

Sie sagen, die schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene ergreift keine Gegenmittel. Nun regt sich Widerstand. Thüringen hat einen Gesetzentwurf für einen bundesweit einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in den Bundesrat eingebracht. Wie schätzen Sie das Vorgehen von Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) ein?

Ich finde es sehr beachtlich, dass die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn nun inzwischen auch von CDU-geführten Ländern kommt. Das ist ein Erfolg der Beharrlichkeit der LINKEN. In Berlin und Brandenburg sind wir da schon einen Schritt weiter. Dort haben wir Vergabegesetze, die einen Mindestlohn für alle öffentlichen Aufträge vorsehen. Die Forderung von Frau Lieberknecht ist also berechtigt, sie kann aber auch in Thüringen selbst etwas zur Verbesserung der Situation im Niedriglohnbereich tun. Und dazu ist neben dem Bekenntnis zu einem Mindestlohn auch eine klare Ansage zur Höhe nötig. Die allerdings ist Frau Lieberknecht uns allen schuldig geblieben.

Hat die Initiative Aussicht auf Erfolg?

Für mich ist vor allem eines wichtig: Der jahrelange beharrliche Druck einer Fraktion im Bundestag und das klare JA zu einem gesetzlichen Mindestlohn hat sich gelohnt. DIE LINKE war lange Zeit die einzige politische Kraft, die sich den Mindestlohn auf die Fahnen geschrieben hat. Das hat offenbar Wirkung gezeigt. Und darauf sollten wir auch als Partei ein wenig stolz sein, auch wenn der Weg noch weit sein wird.

Von Armut sind auch Millionen Kinder betroffen. Was bedeutet das für die Lebenschancen der Kinder?

Auch der Armuts- und Reichtumsbericht belegt die Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen sozialem Status der Eltern und den Teilhabechancen von Kindern in Deutschland eklatant ist. Doch durch bloßes Benennen der immer gleichen Erkenntnisse wird das Problem nicht kleiner. Wir reden hier über Kinder, die mit schmerzhaften und folgeschweren Armutserfahrungen im alltäglichen Leben aufwachsen. Kinder erwerbsloser Eltern wird aufgrund des mangelnden Angebotes der Zugang zu Kitas und Kindergärten erschwert. Ausgrenzungserfahrungen aufgrund von Armut lassen einen übergroßen Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen in einschlägigen Studien ihre eigenen Zukunftschancen als schlecht einschätzen. Und die Statistiken geben ihnen Recht. Statt über Gutscheinmodelle wie beim Bildungspaket, über bestehende Unterversorgungen gerade für Kinder aus Familien, die von ALG II leben müssen, hinwegzutäuschen, muss endlich gehandelt werden.

Wie kann schnell Abhilfe geschaffen werden?

Es gibt hier weder einfache noch schnelle Lösungen für all diese Probleme. Dazu sind sie zu komplex. Ein erster Schritt wäre aber, die Regelsätze für Kinder endlich an deren realem Bedarf zu berechnen und sie als eigenständige Bevölkerungsgruppe nicht mit einem prozentualen Satz dessen, was ein Erwachsener bekommt abzuspeisen, zumal auch dieser mit realen Bedarfen nichts zu tun hat und die Bezeichnung Existenz sichernd nicht im Ansatz verdient. Langfristig sieht DIE LINKE in einer Kindergrundsicherung eine geeignete Form, um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen. Darüber hinaus muss das Bildungssystem in ein durchlässiges und jedes einzelne Kind förderndes umgestaltet werden. Und schließlich sind es die Hilfesysteme der Kinder- und Jugendhilfe, die gestärkt und ausgebaut werden müssen, denn gerade diese Angebote sind es, die Kindern und Jugendlichen die nötige Unterstützung geben können. 

Im Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt es: "Während das Nettovermögen des deutschen Staates zwischen Anfang 1992 und Anfang 2012 um über 800 Milliarden Euro zurückging, hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte von knapp 4,6 auf rund zehn Billionen Euro mehr als verdoppelt." Steckt in diesem Satz schon die Ankündigung des nächsten sozialpolitischen Kahlschlags?

Zunächst kann man darin vor allem das Scheitern der letzten Bundesregierungen erkennen. Weder Rot-Grün, noch Schwarz-Rot und erst recht nicht Schwarz-Gelb haben sich den Fragen, die Armut und soziale Ungleichheit aufwerfen, gestellt und sie thematisiert. Der soziale Kahlschlag ist spätestens seit dem letzten sogenannten Sparpaket aus dem Jahr 2010 im vollen Gange und setzt sich seit dem unbeirrt fort. Zuschussrente, Kürzung der Mittel für die Arbeitsmarktförderung, Streichung des Rentenzuschusses für ALG II Empfänger und obendrein die Ausgrenzung von nahezu allen staatlichen Leistungen für Familien im ALG II Bezug durch volle Anrechnung auf die Grundsicherung – das alles sind nur einige Schlagwörter dessen, was gerade geschieht. Und diese Politik wird sich ohne ein Korrektiv wie DIE LINKE und eine starke außerparlamentarische Gegenbewegung nicht stoppen lassen.
  

"Umfairteilen – Reichtum besteuern" – unter diesem Motto findet am Samstag ein bundesweiter Aktionstag statt. Was erhoffen Sie sich davon?

In jedem Fall erhoffe ich mir, dass das Thema wachsender sozialer Ungleichheit mehr Aufmerksamkeit gewinnt. Vor allem, weil nicht nur das Bündnis, sondern auch die Themen, die durch den Aufruf gesetzt werden, so breit gefächert sind, wie sich soziale Ungerechtigkeit in unserm Land darstellt. Und natürlich hoffe ich, dass viele, viele kommen.

linksfraktion.de, 24. September 2012