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Die Mutmacher

Periodika,

Sie besetzten Eingänge von Arbeitsämtern und veranstalteten Sklavenmärkte vor Arbeitsagenturen. clara. hat den »Zug der Tagelöhner« begleitet.

Die Wachschützer der Recycling-Fabrik hätten es wissen können. Seit Tagen vermeldet es der Rundfunk, schreiben es Brandenburgs Zeitungen: Sogenannte Tagelöhner machen das Land unsicher, Männer und Frauen, in Blaumännern oder orangefarbenen Warnwesten, bewaffnet mit Schippen, Besen und Lautsprechern. Doch die Wachschützer wissen von nichts.

Bis sie plötzlich da sind, die Tagelöhner. Mit Wohnmobil und ein paar Autos blockieren sie das Werkstor. Einer der Wachschützer stürmt aus seinem Häuschen, fängt an zu schreien: »Haut ab!« Aber sie hauen nicht ab. Unter den Drohungen des Wachschützers ziehen sie sich mit ihren Wagen nur vom Tor auf die andere Straßenseite zurück.

Dort warten sie auf den Schichtwechsel. Mit den Arbeitern wollen sie sprechen. Über unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse. Über das Drittel der Arbeitnehmer in Deutschland, die atypisch beschäftigt sind. Die nur befristete Verträge haben, die als Leiharbeiter unterwegs sind oder in Teilzeit jobben. Der SPIEGEL schrieb kürzlich von einer Ära der Unsicherheit. Andere zu ermutigen, sich damit nicht abzufinden – auch dafür ziehen die Tagelöhner zehn Tage lang durch Brandenburg.

»Höchste Zeit, dass sich jemand kümmert!«


Ob sich die Arbeiter überhaupt ermutigen lassen wollen – so kurz vor oder nach der Schicht, direkt vor den Augen von Wachschutz und Geschäftsführung? Es ist 14 Uhr, die ersten ziehen wortlos vorbei, andere schauen verdutzt, laufen weiter. Tagelöhner Michael Maurer (58) spricht beharrlich in seinen Lautsprecher, erklärt, wer sie sind, warum sie hier stehen. Ein paar seiner Mitstreiter gehen derweil auf die Arbeiter zu, drücken ihnen Flyer in die Hand. Versuchen zaghaft, ins Gespräch zu kommen. »Höchste Zeit, dass sich einmal jemand kümmert«, sagt einer der Arbeiter.
Ein anderer wirkt, als habe er nur darauf gewartet, seinem Frust freien Lauf zu lassen. Er hat keine Angst zu sprechen, nicht einmal, als das Team vom lokalen Fernsehen vor ihm steht. Leiharbeiter sei er. Für sechs Euro die Stunde! Viel weniger, als die regulär Beschäftigten in der Fabrik. Dann packen auch andere aus. Erzählen vom Misstrauen zwischen Leiharbeitern und Stammbelegschaft. Erzählen, dass die Leiharbeiter darunter leiden, weniger Lohn zu haben und dazu die ständige Angst, ihr Vertrag werde nicht verlängert. Und, dass andererseits die Stammbelegschaft zu Recht befürchte, Leiharbeiter würden die Löhne drücken und womöglich bald ihren Platz einnehmen.

Es ist die Kleidung, die den Unterschied macht zwischen den Löhnen, den Verträgen und den Ängsten. Die Leiharbeiter tragen Farben und Logo der Leihfirma, die Stammbelegschaft die des Unternehmens. Wie ein Sträfling komme er sich vor, sagt ein Mann. Dann muss er zur Arbeit, verschwindet als einer der letzten hinter dem Werkstor. Die Tagelöhner packen ihre Sachen und fahren zur nächsten Aktion. Es ist der siebte Tag der Tour, zwei weitere folgen, das Ziel heißt Berlin. Hinter ihnen liegen Dutzende von Aktionen in Süd- und Ostbrandenburg, geplante und spontane, wie die soeben vor dem Werkstor.

Auf die Idee mit der Recycling-Fabrik hatte die Tagelöhner ein Gewerkschafter in Schwedt an der Oder gebracht. In der prallen Nachmittagshitze auf dem Marktplatz hatten fast 100 Menschen auf sie gewartet, ihren Reden gelauscht, mit ihnen diskutiert. Darunter jener Gewerkschafter, der sich bei aller Sympathie an einer Sache störte: »Hier sind doch kaum Betroffene, ihr müsst direkt zu den Fabriken fahren!«

Leiharbeit ist Gift


Die Betroffenen! Marianne Wendt (61) von ver.di kennt sie gut. Aus Gesprächen und Besichtigungen von Unternehmen. »Diese Beschäftigungsverhältnisse sind wie Gift«, sagt Marianne Wendt. »Das Gift befällt die Seelen, es zerfrisst die Belegschaften.« Eine Familie, ein eigenes Haus, nichts, sagt Marianne Wendt, sei mehr planbar. Die Zukunft ende mit dem Enddatum eines Arbeitsvertrags. So groß sei die Unsicherheit, dass viele sogar sittenwidrig niedrige Löhne akzeptierten. »Sie sagen, damit kann ich mich zur Not abfinden. Nur mit der Befristung nicht.«

Seit die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2004 den Arbeitsmarkt liberalisierte, boomen Leih- und Zeitarbeit wie keine andere Beschäftigungsform. Den bisherigen Höchststand an Zeitarbeitern gab es mit 823000 im Juli 2008. In der Krise dann ein Rückgang, doch nun spricht der Bundesverband Zeitarbeit von einem neuen Boom, nennt für Juni 2010 eine Zahl von 826000 und rechnet damit, dass der Trend anhält. Denn laut einer Umfrage des Verbandes planten 90 Prozent der Unternehmen, neue Zeitarbeiter einzustellen. Die IG Metall befürchtet, dass es bald 2,5 Millionen Leiharbeiter und Zeitarbeiter in Deutschland geben könnte.

Kein Wunder, dass die Tagelöhner auf ihrer Tour auch einen Sklavenmarkt veranstalten. Ein Blick auf die Internetseite des Zeitarbeitsunternehmens »discount-zeitarbeit.de« offenbart, dass Menschen längst wie Ramschware zu bestellen sind: »Geliefert« werden Helfer ab 11,59 Euro, Kaufleute ab 16,49 Euro und Facharbeiter ab 16,59 Euro. Für derlei Zynismus gab es im Jahr 2007 den Innovationspreis der Initiative Mittelstand »als innovatives Produkt in der Kategorie Personalverwaltung«.

Sie verhökern Erwerbslose


Vor dem Grundsicherungsamt von Angermünde spielen die Tagelöhner vor, wie dieses innovative Produkt aussieht: Sie verhökern Erwerbslose an Passanten. Es ist eine Art spontanes Straßentheater. Einer spielt den Sklavenjäger, ein anderer den Gewerkschafter, andere die Sklaven. Viele ziehen an dem Spektakel vorbei, einige bleiben im Regen stehen und schauen zu. Ein paar folgen schließlich der Einladung, Forderungen und Wünsche an die Politik auf eine Tapete zu schreiben. Diese soll am Ende der Reise vor dem Reichstag ausgerollt werden.

Es ist nicht nur der Regen, der die Menschen daran hindert, sich zu beteiligen. »Es ist Angst und Resignation«, sagt Birgit Kühr (49), die den Text für das Straßentheater schrieb und sich für einen Tag den Tagelöhnern anschloss. Sie war Initiatorin der ersten Montagsdemonstration in Angermünde. Das war im Jahr 2004. Mehr als 800 Menschen folgten damals ihrem Aufruf. Ein Hauch von Hoffnung lag in der Luft, erinnert sich Kühr. Doch dann machte das Gerücht die Runde, auf dem Arbeitsamt seien Leute unter Druck gesetzt worden: »Plötzlich kamen nur noch 400.« Und die bekamen Angst, in der ersten Reihe zu demonstrieren. Wollten nicht mehr fotografiert werden. Kurz darauf war Birgit Kühr nur noch mit einer Handvoll Leute unterwegs.

Statt zur Demo kamen die Leute zu Birgit Kühr nach Hause. Es hatte sich herumgesprochen, dass sie helfe, Widersprüche gegen Hartz IV zu schreiben. Birgit Kühr sah Männer, die weinten, weil sie nicht weiter wussten. Eine von Hartz IV betroffene Frau sagte ihr: »Früher hatte ich die Nummer vom Arzt neben dem Telefon, jetzt hängt da Ihre Nummer.« Manche warfen gleich ihre kompletten Hartz-IV-Bescheide in den Briefkasten von Birgit Kühr.

Die Tagelöhner bleiben dran


Kaum auszudenken, was für ein Gedränge beim Sklavenmarkt von Angermünde herrschen würde, kämen all jene, denen Birgit Kühr geholfen hat. Doch die Tagelöhner lassen sich nicht entmutigen von der Mutlosigkeit. Außerdem sind fast immer Journalisten dabei, die Lokalzeitungen berichten groß, und am Abend sind die Tagelöhner im Fernsehen zu sehen. Auch das zählt: Mit jedem Tag, mit jeder Meldung, wissen mehr Menschen, wer die Tagelöhner sind. Vorbeifahrende Autofahrer grüßen mit der Lichthupe, Beifahrer winken.

Manchmal erschrecken sogar die Tagelöhner vor dem, was sie sehen. Frank Eschholz (47) ging es so in Eisenhüttenstadt, zu Beginn der Tour. In einem Vereinsheim hatten Freunde den Tagelöhnern Unterkunft besorgt. Direkt daneben komplett leer stehende Plattenbauten. Schwarze, leere Fenster, aus denen teilweise noch Gardinen wehten, vernagelte Türen. Minuten stand Frank Eschholz vor so einem Bau und fragte sich, wo all die Menschen jetzt seien, die einst hier lebten. Vor zwanzig Jahren zählte Eisenhüttenstadt 53000 Einwohner, heute sind es 31000. Vor allem die Jungen gingen, fortgetrieben von der Angst vor der Zukunft.

Einigen von denen, die in Eisenhüttenstadt blieben, wollen Frank Eschholz und die Tagelöhner vor dem Grundsicherungsamt begegnen. Das Wohnmobil haben die Tagelöhner vor dem Eingang geparkt, den Rest der Autos wild auf dem Parkplatz. Es wirkt, als plane ein Wanderzirkus, hier sein Lager aufzuschlagen. Als wollten die Tagelöhner die grauen Wände und den staubigen Parkplatz verzaubern. An Geländer und Lampenmasten hängen sie bunte Plakate. Der 62-jährige Conrad Irrgang klettert auf das Vordach, um dort ein großes Transparent anzuknoten. Zu viel der Kühnheit. Die anderen pfeifen Conrad zurück.

Gemeinsam Ängste besiegen


Derweil laufen die ersten »Kunden« in das Grundsicherungsamt. Sie wirken peinlich berührt. Als würden die Tagelöhner sie in einem intimen Moment stören. Beim Gang aufs Amt, bei dem keiner gerne gesehen werden möchte. Doch darum geht es den Tagelöhnern: Sie wollen zeigen, dass das Gefühl der Scham der Stoff ist, aus dem Resignation erwächst. Dass das Märchen »Wer sucht, der findet« bei Millionen von Arbeitslosen endlich aus den Köpfen muss.

Die Tagelöhner sprechen aus Erfahrung. Sie alle haben erlebt, wie Arbeitslosigkeit, Hartz IV und Niedriglohnjobs sie lähmten. Mittlerweile sind sie weit über ihre Heimatstadt Jüterbog hinaus als Ämterschreck bekannt. Davon erzählen sie den Menschen auf ihrer Tour, auch hier in Eisenhüttenstadt: Wie sie sich als Hartz-IV-Betroffene im Jahr 2005 zufällig auf den Jüterboger Montagsdemonstrationen trafen und einen Verein für soziale Selbstverteidigung gründeten. Wie sie es schafften, Ängste und Resignation zu besiegen.

Seither lassen sie kaum eine Gelegenheit aus, um auf Unrecht aufmerksam zu machen: gesetzwidrige Bescheide der Arbeitsämter, willkürliche Kürzungen, Ein-Euro-Jobs. Einmal besetzten sie ein SPD-Büro mit der Losung »Wir sind überflüssig, dieses Büro ist es auch«. Einige Male errichteten sie »Soziale Mauern« aus Pappkartons vor Arbeitsämtern. Bei der Planung solcher Aktionen entdeckten sie, wie sehr ihnen allen amtliche Schreiben und Gänge aufs Amt Angst gemacht hatten. Weil sie nicht glaubten, dass sie für ihre Rechte auch kämpfen konnten. Noch heute erzählen sie stolz, wie sie beim ersten Mal zu zehnt zum Arbeitsamt marschiert sind, um einander beizustehen. Und in welcher Panik der Sachbearbeiter den Raum verließ.

Einige Tage später, Berlin. Es ist die letzte Station der Tagelöhner. 100 Menschen sind gekommen, viel weniger als erhofft. An der Treppe des Reichstags wartet die Abgeordnete Halina Wawzyniak von der Fraktion DIE LINKE. Frank Eschholz trägt die Tapetenrolle voller Wünsche zu ihr hin-auf, ein Kollege hilft ihm beim Entrollen. »Was des Volkes Hände schaffen, soll des Volkes eigen sein.« »Leiharbeit ist das Ende echter Arbeit.« »Kündigungsschutz verbessern« – Losung auf Losung, Wunsch auf Wunsch kommen zum Vorschein. Zu viele für die Stufen des Reichstagsgebäudes. Immer mehr Menschen eilen herbei, Berliner, Touristen, ein Team vom ZDF.

»Wir fanden die Aktion super!«


Das Ende der Tour bildet eine Diskussionsveranstaltung im Berliner Stadtteil Kreuzberg. 680 Kilometer sind die Tagelöhner durch Deutschlands Nordosten gekreuzt, und nun sitzen sie erschöpft in einer Kirche, die Diskussion plätschert dahin. Bis sich plötzlich eine Tür öffnet und Jugendliche in den Saal strömen, die schon auf der Treppe des Bundestages dabei waren. Einer von ihnen, Enz, sagt: »Wir fanden eure Aktion super!« Und erzählt, wie er vor Jahren mal versucht hätte, mit 700 Leuten auf die Treppe des Bundestages zu kommen: keine Chance, Bannmeile, die Polizei knüppelte sie weg.

Schon deshalb findet Enz die Tagelöhner cool. Sie haben das tatsächlich geschafft. Auch deswegen sind er und seine Freunde spontan den Tagelöhnern hier in die Kirche gefolgt. Sie wollen wissen, wie sie die Tour organisierten. Vielleicht, sagt Enz, mache er mit seinen Freunden nächstes Jahr auch so eine Tour.