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»Die Menschen sind das eigentliche Potenzial im Nordosten«

Interview der Woche von Heidrun Bluhm-Förster,

 

 

Mecklenburg-Vorpommern, Bundesland zwischen Idylle und Strukturschwäche: Heidrun Bluhm, Sprecherin der Fraktion für den Ländlichen Raum, und Helmut Holter, Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Schweriner Landtag, sprechen im Interview über Chancen und Herausforderungen der Region und wie DIE LINKE sie nutzen und meistern will.

 

Heidrun Bluhm, Sie sind Mecklenburgerin, seit über zehn Jahren Mitglied des Bundestages und Sprecherin Ihrer Fraktion für den Ländlichen Raum. Im September wird bei Ihnen im Norden eine neue Landesregierung gewählt, Sie sind viel unterwegs und treffen unterschiedlichste Menschen in einer Region, die viele vor allem als Traumziel für einen entspannten Urlaub kennen. Was macht Mecklenburg-Vorpommern darüber hinaus aus?

 

Heidrun Bluhm: Mecklenburg-Vorpommern ist mein Heimatland und ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu wohnen. Die Touristen fühlen sich wohl hier und kommen deshalb immer gern wieder. Gleiches sollte jedoch auch für die Einwohnerinnen und Einwohner dieses sehr schönen Bundeslandes gelten. Dazu gehört für mich vor allem, dass die Menschen Arbeit haben, von der sie auch leben können ohne aufstockende Leistungen vom Staat. Dazu gehört auch, dass sie an ihren Arbeitsorten wohnen und die Miete bezahlen können. Das ist in den Ferienorten heute oft nicht mehr gegeben. Und dazu gehört, dass in den Dörfern Kita, Schule, Arzt und Konsum vorhanden sein müssen, um dort bis ins hohe Alter bleiben zu können. All das will DIE LINKE für unser Land gewährleisten.

 

Helmut Holter, Sie kennen Mecklenburg-Vorpommern vermutlich besser als Ihre Westentasche. Seit über 20 Jahren sind Sie in der Landespolitik aktiv, darunter vier Jahre als Minister, und nun bereits zum zweiten Mal Spitzenkandidat Ihrer Partei. Sie haben die Veränderungen im Land hautnah mitbekommen, begleitet und gestaltet. Was hat Sie besonders bewegt?

 

Helmut Holter: Die Menschen sind das eigentliche Potenzial im Nordosten. Sie sind eng mit ihrer Scholle verbunden und engagieren sich für ihre Heimat. "Unsere Kinder sollen es einmal besser haben" ist seit Jahrzehnten ein geflügeltes Wort in Mecklenburg-Vorpommern. Identität und Beharrungsvermögen einerseits, Anpacken und Gestalten andererseits zeichnet die Menschen im Nordosten aus. Ganz nach dem Motto: "Hinterm Horizont geht's weiter!" Nach der Vereinigung und der Wiedergeburt des Landes haben die Menschen in die Hände gespuckt und ihr Land neu gestaltet.

 

Wenn Sie durchs Land fahren, erleben Sie sicher nicht nur landschaftliche Wechsel. Wie unterscheiden sich die Regionen?

 

Helmut Holter: Mecklenburg-Vorpommern ist ein gespaltenes Land: sozial, regional, digital. Der Strich zwischen Mecklenburg und Vorpommern wird im Osten als Trennungsstrich empfunden. Das haben uns die Menschen vor Ort bei unseren zahlreichen Besuchen immer wieder gesagt. Wir wollen verbinden statt trennen, aus dem Trennungsstrich einen Bindestrich machen. Wir wollen, dass alle Menschen im Land die gleichen Chancen haben. Das ist ein großer Schwerpunkt. Der Osten des Landes verdient mehr Aufmerksamkeit. Auch die Landesregierung hat ja sogenannte ländliche Gestaltungsräume insbesondere im Osten des Landes ausgemacht – passiert ist aber nichts.

 

Wie zeigt sich das konkret?

 

Helmut Holter: In Vorpommern sind mehr Menschen arbeitslos, die Menschen sind länger arbeitslos. Die Menschen sind länger krank, und leider sterben die Menschen im Osten des Landes auch früher. Die Wirtschaftskraft ist schwächer, die Verkehrserschließung und -anbindungen sind schlechter. Die Menschen in Vorpommern fühlen sich durch die Landesregierung nicht nur vernachlässigt und in Teilen abgehängt, sie sind es auch. Vorpommern und das östliche Mecklenburg bleiben zurück. Das muss verändert werden. Ziel muss eine chancengleiche Entwicklung aller Menschen in allen Landesteilen sein.

 

Wie wollen Sie das machen? Gibt es konkrete Vorstellungen?

 

Helmut Holter: Ja, die gibt es natürlich. Wir schlagen für ländliche, besonders strukturschwache Räume unter anderem ein Regionalbudget in Höhe von 50 Millionen Euro pro Jahr vor. Mit dem Geld sollen die Menschen, Initiativen, Vereine und Verbände vor Ort möglichst unbürokratisch eigenverantwortlich umgehen können. Die Einwohnerinnen und Einwohner in diesen ländlichen Regionen wissen am besten, wo ihre Potenziale liegen. Darüber hinaus muss Szczecin mehr in den Fokus genommen werden, nach dem Vorbild der Metropolregion Hamburg. Dafür muss insgesamt die deutsch-polnische Zusammenarbeit intensiviert werden.

 

Lange war die Region von Abwanderung geprägt. Jetzt gibt es eine Trendwende, mehr Menschen zieht es wieder in den Nordosten. Gleichzeitig hat vor allem der Ländliche Raum mit demographischen Veränderungen zu kämpfen. Was bedeutet das für Wirtschaft und Infrastruktur, aber auch für die Gesellschaft?

 

Heidrun Bluhm: Wir erleben zwei gegensätzliche Trends. Einerseits dürfen wir die Probleme des Ländlichen Raumes nicht aus den Augen verlieren. Hier haben die Gemeinden mit demographischen Problemen zu kämpfen. Die Menschen müssen gut versorgt sein. Keine Region darf abgehängt werden! Der Bund muss den Kommunen ausreichend finanziellen Spielraum schaffen und die Förderung für den Ländlichen Raum aufstocken, um dessen Potenziale, bspw. im Energie- oder Tourismussektor, zu schöpfen, Zukunftsinvestitionen zu ermöglichen und den Wandel zu gestalten. Vor allem in den größeren Städten und Hochschulstädten wie Greifswald und Rostock lassen sich junge Menschen nieder und gründen Familien. Diese Städte haben Chancen als Wirtschafts-, Forschungs- und Technologiestandorten. Diese Potenziale müssen wir schöpfen. Aber auch hier müssen wir die Probleme im Blick haben, etwa beim Kita-Ausbau und der Wohnraumversorgung. Vor allem müssen wir in unsere Köpfe investieren.

 

Welche neuen Herausforderungen ergeben sich daraus für die Politik?

 

Helmut Holter: Es ist sehr gut, dass es wieder mehr junge Familien in unserem Land gibt. Dafür müssen wir aber besonders in Bildung investieren, und die beginnt schon vor der Schule. Deshalb wollen wir zum einen mehr Kita- und Krippenplätze sowie einen besseren Betreuungsschlüssel, indem wir mehr Erzieherinnen und Erzieher einstellen. Zum anderen wollen wir, dass für alle Eltern die Betreuung ihrer Kinder in Kitas schrittweise kostenfrei wird. Dazu muss das Land seinen Anteil an der Finanzierung erhöhen, aber auch der Bund muss sich beteiligen. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, immer mehr ältere Menschen bestmöglich zu versorgen – auch dann, wenn sie auf Pflege angewiesen sind. Wenn wir junge Menschen für den Pflegeberuf begeistern wollen, muss sich auch hier was bewegen. Die Ausbildung etwa muss kostenlos sein, und wir müssen den jungen Absolventinnen und Absolventen gute Berufsperspektiven bieten, damit sie auch in Mecklenburg-Vorpommern bleiben.

 

Sie sehen den Bund in der Pflicht. Welche Initiativen gibt es dort, die in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch anderen ländlichen oder strukturschwachen Regionen in Deutschland zugute kommen könnten?

 

Heidrun Bluhm: Der Bund ist vor allem in der Pflicht, die kommunale Finanznot zu beenden. Sie lähmt die Entwicklung vieler ländlicher Kommunen. In vielen Gemeinden sind die Haushalte von Investitions- zu Sozialhaushalten geworden. Der Bund muss die Kommunen bei der Erhaltung der öffentlichen Infrastrukturen, wie Straßen, Schulen und den ÖPNV, unterstützen. Dazu muss die Förderung des Ländlichen Raumes, etwa beim Breitbandausbau, der Gemeindestraßenfinanzierung oder den Regionalisierungsmitteln, verlässlich und bedarfsgerecht ausfinanziert werden. Mit der Reform der „Gemeinschaftsaufgabe Agrarstrukturen und Küstenschutz“ hat die Bundesregierung eine wichtige Chance verpasst, die Förderung des Ländlichen Raumes zu qualifizieren und sie an die Erfordernisse einer nachhaltigen und integrierten Regionalentwicklung anzupassen.

 

Auch die Agrarpolitik wirkt sich auf die Entwicklung Mecklenburg-Vorpommerns aus. Weite Teile des Landes sind ländlich geprägt. Welche Rolle spielen Milchkrise und Agrarmarktstrukturen bei der Entwicklung des Landes?

 

Heidrun Bluhm: Vor allem die Preise auf dem deutschen Milch- und Fleischmarkt bringen viele Bauern an den Rand ihrer Existenz. Das konnte ich in Gesprächen mit Landwirten in meinem Wahlkreis eindrucksvoll erleben. Hier sehe ich die exportorientierte Agrarpolitik der Bundesregierung als einen Irrweg. Wir wollen eine Mengensteuerung auf dem Milchmarkt und kritisieren das Russland-Embargo, das vor allem in Mecklenburg-Vorpommern schwere Folgen hinterlässt. Auch das Thema Boden ist entscheidend. Die BVVG verkauft bundeeigene Agrarflächen meistbietend und treibt damit Bodenspekulation selbst voran. Immer öfter versuchen auch nichtlandwirtschaftliche Investoren mit Agrarflächen Rendite zu machen und kaufen sich in heimische Betriebe ein. Hier müssen wir einen Riegel vorschieben.

 

Und dann gibt es ja auch noch das Thema Europa. Helmut Holter hatte vorhin schon die deutsch-polnische Zusammenarbeit erwähnt, die intensiviert werden müsse. Mecklenburg-Vorpommern ist allein schon historisch das Tor zum Ostseeraum, nach Nordeuropa. Welche Erwartungen haben Sie an Brüssel und welche Kooperationen laufen gewinnbringender auf der interregionalen Ebene?

 

Helmut Holter: Mecklenburg-Vorpommern darf nicht zum verkehrspolitischen Niemandsland werden. Die kürzeste Verbindung zwischen Skandinavien und der Adria führt nun mal über unser Land. Deswegen muss Mecklenburg-Vorpommern in den sogenannten TEN, den transeuropäischen Netzen, auch zukünftig eine große Rolle spielen. Die Ostseeregion ist eine prosperiernde Region. Die Zusammenarbeit der Ostseeanrainer, einschließlich Russland, muss intensiviert und ausgebaut werden – etwa im Tourismus, dem Jugendaustausch, der Ökologie. Die Ostsee muss ein Meer des Friedens bleiben.

 

linksfraktion.de, 3. August 2016