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Plakat mit Zitat von Dietmar Bartsch: "Frau Merkel behauptet, es ginge allen gut. Doch Sie und ich wissen es besser." © dpaFoto: dpa

»Die Leute werden auf gut Deutsch verarscht«

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, t-online.de,

Der Wahlsonntag rückt immer näher und das Rennen um Platz drei ist offen. Im t-online.de-Interview verrät Dietmar Bartsch, Spitzenkandidat der Linken, wie die Linke der AfD Stimmen abnehmen will. Und warum Angela Merkel und die CDU Deutschlands sozialen Frieden bedrohen.

 

Ein Interview von Florian Harms und Marc von Lüpke

 

Herr Bartsch, wie wird Ihre Stimmung am nächsten Sonntag gegen 18.05 Uhr sein? Eher euphorisch oder eher traurig?

Dietmar Bartsch: Ich werde bis zum letzten Tag dagegen kämpfen, dass eine rechtspopulistische Partei im Deutschen Bundestag sitzt. Das wird vermutlich aber anders sein. Zusätzlich wird Angela Merkel wahrscheinlich Kanzlerin in Deutschland bleiben. Deshalb wird meine Stimmung getrübt sein trotz eines tollen Ergebnisses meiner Partei.

Eine Regierungsbeteiligung wird für Ihre Partei aller Wahrscheinlichkeit nach nicht drin sein. Muss sich die Linke grundlegend ändern, um irgendwann Teil der Bundesregierung zu werden?

Nein. Es liegt nicht an uns, dass es keinen Wechsel zu einem Mitte-Links-Bündnis gibt. Eine Voraussetzung dafür wäre, dass die Sozialdemokraten ein entsprechendes Gewicht auf die Waage bringen. Das wird wahrscheinlich nicht der Fall sein. Also kämpfe ich gemeinsam mit vielen anderen ausschließlich darum, dass wir als Linke unsere Wahlziele erreichen.

Sie wollen zweistellig abschneiden und drittstärkste Kraft im Bundestag bleiben – politische Gestaltungsmacht werden Sie damit aber wohl nicht bekommen.

Wenn wir als Linke stärker werden, wird selbst eine zukünftige Regierungskoalition ohne Beteiligung der Linken Teile unseres Programms in ihrem Koalitionsvertrag berücksichtigen. Denn eins wollen alle nicht: Dass die Linke noch stärker wird.

Wäre es nicht viel attraktiver, Ihr politisches Programm in Regierungsverantwortung selbst durchzusetzen?

Natürlich. Aber alle Vorhaben verwirklichen zu können, ist selbst in einer Koalitionsregierung nie der Fall. Das ginge nur, wenn wir die absolute Mehrheit erringen. Das wird aber auf absehbare Zeit nicht der Fall sein.

In einer rot-rot-grünen Koalition hätten Sie Macht.

Ich setze mich schon seit Jahren dafür ein, dass es Mitte-Links-Bündnisse auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene gibt, um etwas für die Mehrheit der Menschen zu verändern.

Dass es auf Bundesebene nicht klappt, liegt aber doch nicht nur an der SPD. Die Linke müsste pragmatischer und kompromissbereiter sein.

Martin Schulz sagt jetzt in den Wahlforen einiges, was nach einer Alternative klingt. Das ist in Ordnung, aber die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokraten ist nahe dem Nullpunkt. Weil alles, was Schulz jetzt an den sozialen Zuständen in Deutschland kritisiert, letztlich unter der Regierungsbeteiligung der SPD stattgefunden hat. Wenn er nun ein „Jetzt wird aber alles anders“ ankündigt, glauben ihm viele Menschen das nicht mehr. Das haben sie zu oft gehofft und wurden enttäuscht.

Glauben Sie denn, dass Ihnen Regierungsbeteiligungen auf Landes- und Kommunalebene eher schaden? Anders als in der Opposition können Sie dann keine Protestpartei sein.

Wir sind den Menschen verpflichtet. Die Frage „Nutzt es meiner Partei?“ darf für jemanden, der in der Politik tätig ist, nicht das erste Kriterium sein. Wir regieren erfolgreich in drei Bundesländern. Natürlich beklagt die politische Konkurrenz, wie furchtbar alles dort sei. Wenn ich daran denke, was Thüringen alles vorausgesagt worden ist: Dass es dort bald weder Bananen noch Thüringer Rostbratwurst geben würde. Dabei läuft es in Thüringen ziemlich gut.

Konkret: Welchen Kurs wird die Linke fahren, wenn es am Sonntag nicht für eine Regierungsbeteiligung reicht?

Wir werden in jedem Fall weiter kämpfen. Wir haben in unserem Land einige grundsätzliche Probleme. Das versucht die CDU unter dem Teppich zu halten. Aber es ist einfach wahr, dass wir auf der einen Seite immer mehr Milliardäre und mehr Vermögensmillionäre haben und auf der anderen Seite immer mehr Menschen, die im Alter lediglich von der Grundsicherung leben müssen. Immer mehr Kinder sind von Armut bedroht. Darüber muss man reden und endlich handeln! Tragen wir Deutsche eigentlich eine Mitverantwortung dafür, dass die Welt aus den Fugen geraten ist? Mit unseren Waffenexporten, mit unserer Exportpolitik auf dem Nahrungsmittelsektor?

Da werfen Sie Angela Merkel und der CDU Tatenlosigkeit vor. Aber bei den meisten Bürgern stehen diese Themen nun mal nicht ganz oben auf der Agenda.

Die CDU spricht von „einem Land, in dem man gut und gerne leben kann“. Mir ist im Wahlkampf keine Partei aufgefallen, die gefordert hat, dass sie ein Land will, in dem man schlecht und ungern lebt. Wenn die CDU Plakate aufstellt mit dem Slogan „gute Arbeit, gute Löhne“ – dann denke ich mir: „Wer ist denn eigentlich dagegen?“ Ich kann die Wahlslogans der Union nahezu alle unterschreiben. Das ist bedenklich! Die Union versucht, in einem Schlafwagen-Wahlkampf an der Macht zu bleiben. Vermutlich wird ihr das gelingen, aber mit Sicherheit wird sie Prozente verlieren. Vielleicht mehr als jede andere Partei.

Auch für die Linke sind die Umfragen aber nicht rosig: Im Moment sieht es so aus, als würde die AfD drittstärkste Kraft im Bundestag. Was läuft in Ihrem Wahlkampf falsch?

Wer drittstärkste Kraft wird, ist offen. Wir wollen auf den letzten Metern zulegen. Das Erstarken der AfD hat auch mit dem Versagen von Angela Merkel und der Großen Koalition zu tun. Zum Beispiel, dass sie keine soziale Investitionsoffensive gestartet hat. Im Bundestag gibt es mit der Linken und den Grünen zurzeit zwei Oppositionsparteien, die auf der linken Seite stehen. Auch das hat die AfD scheinbar attraktiv gemacht.

Bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt hat die AfD Ihrer Partei viele Stimmen abgenommen.

Da haben Sie Recht. Ich lege aber großen Wert darauf, dass es deutlich mehr Stimmen von der Union waren. Bei den folgenden Wahlen war das nicht der Fall, weder in Berlin noch anderswo. Da war der Abfluss von uns zur AfD vergleichsweise gering, weil wir die Schlussfolgerung gezogen haben, dass wir uns für die Menschen klarer erkennbar mit der Politik der Großen Koalition auseinandersetzen müssen. Es muss deutlich werden, dass die Linke im Gegensatz zur AfD die wirkliche soziale Alternative in Deutschland ist.

Die Abgrenzung ist schwer, da Linke und AfD einige Gemeinsamkeiten aufweisen: Euro-Skepsis, US-kritische Haltung, Globalisierungskritik...

…dem widerspreche ich entschieden! Wir verfolgen keine ähnliche Programmatik, das erzählen politische Wettbewerber. Keine Partei ist von uns so weit entfernt wie die AfD. Gucken Sie sich mal an, bei welchen Parteien die jeweilige Wirtschafts- und Finanzpolitik tatsächlich am ähnlichsten ist: Bei AfD und FDP, aber ganz sicher nicht bei uns. Bei der Globalisierung kommt es darauf an, sie zu gestalten. Wir sind gegen Freihandelsabkommen – etwa im Fall Afrikas, weil diese dort Ursachen für Flucht und Vertreibung verschärft haben.

Vertritt die AfD die Interessen der kleinen Leute möglicherweise einfach besser als die Linke?

Nein. Aber wir haben da eine Aufgabe. Nehmen wir mein Heimatland Mecklenburg-Vorpommern: Ich mache dort im Wahlkampf in kleinen Städten und Dörfern die Erfahrungen, dass sich die Menschen überhaupt nicht mehr vertreten fühlen. Sie fühlen sich missverstanden und im Stich gelassen. Das höre ich immer wieder. Es gibt in der Bevölkerung eine große Enttäuschung. Und die ist im Osten größer als im Westen.

Woher kommt diese Enttäuschung?

Den Menschen wurden von Helmut Kohl blühende Landschaften versprochen, später hat Gerhard Schröder den Osten zur Chefsache gemacht. Dann gab es mit Angela Merkel und Joachim Gauck gleich zwei Ostdeutsche an der Staatsspitze. Immer wieder hatten die Menschen Hoffnung auf Besserung – und immer wieder wurden viele enttäuscht.

Das klingt nicht danach, als würden Sie daran glauben, dass die AfD irgendwann wieder verschwindet.

In Regionen wie in Vorpommern, wo ich herkomme, wird das eine lange Wegstrecke sein. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen, die sich für die AfD entschieden haben, zurückzugewinnen. Ich persönlich kann nicht verstehen, warum Menschen diese Partei wählen. Und ich sage den Wählerinnen und Wählern auch klar, dass es so nicht geht: Wer AfD wählt, trägt auch eine Verantwortung für deren Politik und deren Personal.

Aber was ist Ihre Strategie für Menschen im Westen, die auch vielerlei Sorgen haben?

Wir haben keine Strategie für Ost oder West. Alles, was wir verändern wollen, betrifft beide gleichermaßen. Wir haben nur in den neuen Ländern einige spezifische Probleme. Zum Beispiel hat die Große Koalition die Angleichung der Rentenwerte Ost für das Jahr 2025 vorgesehen. Das ist ein riesiger Skandal! Wer 1990 im Osten mit 65 Jahren in Rente gegangen ist, muss 100 Jahre alt werden, um die Angleichung zu erleben. Dabei würde das nur vier Milliarden Euro kosten: Allein die Staatsüberschüsse im ersten Halbjahr 2017 liegen bei 18,3 Milliarden Euro. Da läuft im Land etwas schief, die Leute werden auf gut deutsch verarscht.

Auch die SPD setzt auf das Thema soziale Gerechtigkeit. Glauben Sie, dass die Wähler wirklich zwischen Linker und SPD unterscheiden können?

Das kann man sehr gut unterscheiden. Ich habe es sehr begrüßt, dass Martin Schulz die soziale Gerechtigkeit im Januar und Februar zum Thema Nr.1 machen wollte. Interessanterweise ging das mit einem deutlichen Aufstieg der SPD einher. Danach hat Martin Schulz aber nicht geliefert, er verwendet viele wohlklingende Worthülsen. Selbst Peer Steinbrück hatte 2013 die Wiedererhebung der Vermögenssteuer im Wahlprogramm – Schulz jetzt nicht mehr. Das war zu lange ein Wahlkampf, der Frau Merkel nicht herausgefordert hat.

Was werfen Sie der SPD noch vor?

Ich werfe ihr nichts vor, aber wünsche mir einen anderen Kurs. Zum Beispiel heißt es jetzt seitens der SPD, dass wir uns mit Kinderarmut nicht abfinden können. Aber wer war denn jahrelang für das entsprechende Ministerium zuständig? Jetzt zu behaupten, dass sie alles anders machen werden, glauben viele der SPD nicht mehr. Wir hatten seit 2013 vier Jahre lang mit SPD, Linken und Grünen eine Mehrheit jenseits der Union. Sie ist aber nur ein einziges Mal manifest geworden: bei der Ehe für alle.

Würden Sie trotzdem mit der SPD koalieren?

Die SPD muss zunächst einmal die entsprechenden Prozente bringen. Ich würde mich freuen, wenn endlich wieder eine fortschrittliche Politik im Interesse der Mehrheit gemacht werden könnte. Da wären wir als Linke sofort dabei. Ich wünsche mir das, weil es für das Land und Europa besser wäre. Wir haben eine Situation, in der der soziale Zusammenhalt in unserem Land gefährdet ist.

Welche Bedingungen würden Sie der SPD stellen?

Wir haben keine Bedingungen zu stellen. Wir brauchen eine große Steuerreform – da liegen unsere Auffassungen weit auseinander. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir beim Thema Arbeitsmarkt, bei einer Bürgerversicherung, vielleicht sogar beim Thema Waffenexporte deutlich vorankommen könnten. In dieser Legislaturperiode sind so viele Waffenexporte genehmigt worden wie noch nie – und zwar vom damaligen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Jetzt darf er sich als Außenminister anschauen, was diese Waffenexporte in der Welt angerichtet haben. Der zentrale Punkt ist aber die Verteilungsfrage: Gibt es den Mut, sich mit den Vermögenden und Mächtigen anzulegen oder nicht?

Ihr Kampf gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit in allen Ehren, die Linke fordert aber auch die Auflösung der Geheimdienste und des Verfassungsschutzes. Wollen Sie das Land Islamisten und Rechtsradikalen ausliefern?

Das ist bei uns Programmlage, aber ich persönlich habe eine etwas differenziertere Sicht. Selbstverständlich darf man Deutschland keiner weiteren Gefahr aussetzen. Ich sehe aber, dass die bisherige Struktur und Arbeitsweise der Geheimdienste nicht erfolgreich war. Wenn jemand wie Anis Amri mit 14 Identitäten in Berlin einen Anschlag verüben konnte, muss etwas schiefgelaufen sein. Ein so eklatantes Versagen der Geheimdienste, wie es auch beim Thema NSU der Fall war, muss zu strukturellen Veränderungen führen.

Sie haben mehrfach die deutschen Rüstungsexporte angesprochen. In Bayern und am Bodensee gibt es ganze Regionen, in denen die Menschen von der Arbeit in Rüstungsfabriken leben. Wenn Sie das Verbot von Rüstungsexporten durchsetzen könnten und die Fabriken schließen müssten – wo sollen all die Menschen dann arbeiten?

Das geht natürlich nicht von einem Tag zum anderen, aber wir müssen daran arbeiten. Die Alternative ist, dass wir weiterhin Waffen in alle Welt liefern und damit blutige Profite verdienen. Dass muss man so deutlich sagen. Wir sind an vielen Konflikten auf der Welt mitschuldig. Deswegen muss zuerst der Export in Krisenregionen gestoppt werden. Wäre die Linke in Regierungsverantwortung, würde keine Waffe und kein Ersatzteil in Richtung Türkei geliefert. Aber Sie haben natürlich Recht: Wir müssen uns im Rahmen eines Strukturwandels darum kümmern, dass Menschen, die in der Rüstungsindustrie arbeiten, andere Möglichkeiten bekommen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Konversion ist das Stichwort. Deutschland soll weiter Spitzentechnologie im Maschinenbau vorweisen, aber wir müssen bei Rüstungsgütern nicht an der Spitze stehen.

Die deutschen Rüstungsexporte an die Türkei wurden bereits deutlich gedrosselt, auf 25 Millionen Euro seit Anfang des Jahres.

Mit einer Linken-Regierung würde es gar keine Waffenexporte mehr in die Türkei geben. Und auch nach Saudi-Arabien, das einen Krieg im Jemen führt, würde keine einzige Waffe mehr geliefert. Deutschland ist die Nummer drei im weltweiten Waffenverkauf, bei Kleinwaffen sogar die Nummer zwei. Das ist ein großer Fehler.

Sie sind auch gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, zum Beispiel in Mali. Die deutschen Soldaten versuchen doch aber, der Bevölkerung zu helfen.

Sie haben es richtig formuliert: Es ist ein Versuch. Seit 2002 gibt es den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Nach mittlerweile 15 Jahren sieht das Ergebnis so aus: Sieben Milliarden Euro ausgegeben, 10.000 zivile Opfer und mehr als 50 tote Bundeswehrsoldaten, die Taliban beherrschen drei Provinzen, die Sicherheitslage ist nicht besser als 2002. Wollen wir weitere 15 Jahre so weitermachen? In Mali begeben wir uns in ein neues Abenteuer: Dort sind jetzt bereits mehr deutsche Soldaten stationiert als in Afghanistan. Aber was ist eigentlich das definierte Ziel – der Bevölkerung helfen? Wie und wann will Deutschland da wieder raus? Ich habe da viele große Fragezeichen.

Wie soll Deutschland sonst dazu beitragen, Mali und anderen Krisenstaaten zu helfen?

Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen dort Perspektiven erhalten. Im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit könnte Deutschland dort tolle Entwicklungsprojekte vorantreiben. Die Position der Linken ist: Jedes Kind soll da, wo es geboren wird, die Chance bekommen, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. Das ist ein langer Prozess, aber wir können und müssen dahin kommen. Es ist doch unfassbar, dass in unserem Land viel mehr über die Erhöhung des Rüstungsetats geredet wird als über die Erhöhung der Entwicklungsausgaben. Wir reden nicht darüber, was wir machen könnten, um sechs akute Hungerkatastrophen auf der Welt zu bekämpfen. Alle zehn Sekunden verhungert ein Kind – darüber reden wir viel zu wenig. Ich werde weiter alles mir Mögliche tun, dass kein Kind vor Hunger stirbt.

Herr Bartsch, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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