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Deutschland wird immer unsozialer

Interview der Woche von Herbert Schui,

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am 28. 11. 2007 in der Generaldebatte des Deutschen Bundestages zum Haushalt 2008 eine positive Bilanz ihrer Regierung mit den Worten gezogen: »Der Aufschwung kommt bei den Menschen an.« Davon haben viele Bürgerinnen und Bürger allerdings nichts gespürt. Hat die Kanzlerin schlechte Berater oder ignoriert sie Realitäten?

Frau Merkel hat sich von ihren PR-Beratern zur Kanzlerin des Aufschwungs machen lassen. Die Parole lautete: Die Reformen - im Klartext: die weitere Beseitigung des Sozialstaates - hätten zum Konjunkturaufschwung geführt. Das ist zwar eine falsche Theorie, aber eine gute PR-Strategie - allerdings nur solange der Aufschwung anhält. Sie funktionierte nur, solange die Leute die Hoffnung haben konnten, irgendwann würde der Aufschwung auch bei ihnen ankommen. Was werden Frau Merkels PR-Berater nun aus ihrer Kanzlerin machen, wenn der Aufschwung vorbei sein sollte?

Viele Medien überschlagen sich derzeit mit alarmierenden Konjunkturdaten zitieren Wirtschaftswissenschaftler, die entweder zum Auf- oder Abschwung tendieren. Was stimmt denn nun?

Der Aufschwung war kein Ergebnis von Schröders unsozialer Politik, sondern von einer Welle von Ersatzinvestitionen der Unternehmen. Die gute Weltkonjunktur hat geholfen. Erfahrungsgemäß dauert ein Konjunkturzyklus 10 Jahre; dann würde der neue Tiefpunkt 2013 erreicht - mit einer vorlaufenden Abschwungphase von 1½ oder zwei Jahren. Es gibt jedoch Gründe dafür, dass Arbeitgeber-Vertreter wie Martin Kannegiesser schwarz sehen. Die Auftragseingänge sinken seit Ende 2007. Ursache dafür sind real stagnierende Masseneinkommen (die höheren Ölpreise werden auf Beschäftigte und Sozialeinkommensbezieher abgewälzt) und die Hochzinspolitik der Europäischen Zentralbank.

Welche Erklärung haben Sie dafür, dass sich weder Kanzlerin Merkel noch Finanzminister Steinbrück vom so genannten Reformprogramm verabschieden?

Merkel und Steinbrück folgen der Theorie, dass nur die Unternehmensgewinne kräftig steigen müssen, schon lösen sich alle Probleme. Dass diese Theorie nicht stimmt, hat der aktuelle Aufschwung gezeigt. Die Gewinne sind explodiert, Löhne und Konsum haben stagniert. Jobs sind zwar entstanden, aber weniger, als der letzte Abschwung vernichtet hat. Natürlich gibt es Menschen, die von dieser Politik profitieren. Merkel und Steinbrück vertreten deren Interessen. Deswegen werden sie von ihrer Reformagenda nicht ablassen.

Welche Konsequenzen hat das für Verteilung des Volkseinkommens?

Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist seit 2000 dramatisch gesunken. Deutschland hat inzwischen einen der größten Niedriglohnsektoren unter den Industriestaaten. Der Sozialstaat wird ausgehungert. Renten und andere Sozialleistungen erhalten nicht einmal mehr einen vollen Inflationsausgleich. Deutschland wird immer unsozialer. Die Bundesregierung jedoch tut so, als hätte sie nichts damit zu tun. Sie liest den Armuts- und Reichtumsbericht wie einen Wetterbericht.

Wenn es zu einer weiteren Polarisierung zwischen Arm und Reich kommt, dürfte das den sozialen Frieden noch mehr zerstören. Kann sich die Bundesregierung diese Ignoranz vor den nächsten Bundestagswahlen tatsächlich leisten?

Hoffentlich kann sie es sich nicht leisten und wird 2009 abgestraft. Es handelt sich allerdings um Überzeugungstäter. Schröder hat sich ja dafür gerühmt, die Agenda 2010 trotz drohender Wahlniederlage durchgesetzt zu haben. Sozialer Friede ist für die Linke allerdings das falsche Stichwort. Wir wollen, dass die Menschen für ihre Interessen streiten.

Die deutsche Wirtschaft ist Teil des globalen Wirtschaftssystems- wie gehen andere Länder mit dem Abschwung um?

Kein Land hat so stark vom Aufschwung der Weltwirtschaft profitiert wie Deutschland, und kein Land tut so wenig, um ihn zu stützen. Während Deutschland weiter Lohn-, Sozial- und Steuerdumping betreibt, macht die US-Regierung sehr viel, um eine Rezession zu verhindern. Durch Steuergutschriften in Milliardenhöhe stützt sie den privaten Verbrauch. Die US-Zentralbank hilft mit niedrigen Zinsen.

Welche Maßnahmen müsste die Bundesregierung aus Ihrer Sicht umgehend ergreifen, um eine Verschärfung der sozialen Lage vieler Bürgerinnen und Bürger abzufedern?

Die Konjunktur hätte schon längst mit einer anderen Verteilung des Volkseinkommens stabilisiert werden müssen: Mehr Lohn, mehr Altersrenten, das schafft mehr Binnennachfrage. Mehr Gewinn tut das nicht. Für diese Verteilungspolitik - die fordert die Linke - ist es höchste Zeit. Die Regierung aber schwadroniert rum: Kanzlerin Merkel will» in ihren Reformbemühungen nicht nachlassen«, also den Sozialstaat weiter ruinieren, Finanzminister Steinbrück lehnt mit entschlossener Feldherrnmine jeden »Notfallplan«, wie er’s nennt, ab, weil das die Unternehmen verunsichern könnte. Als ob der Notausgang in einer Gaststätte je Panik hervorgerufen hätte!

linksfraktion.de, 11.August 2008