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Der zweite Kopf des Abgeordneten

Periodika,

Matthias Hinze, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Werner Dreibus, ist davon überzeugt, dass

Politik nur mit - und

nie gegen die Menschen funktioniert.

»Hast du heute Abend Zeit und Lust, zu Tante Horst zu kommen?« Wenn Matthias Hinze befreundeten Journalisten oder Fraktionsmitarbeitern diese Frage stellt, bereitet er sich meist auf eine neue Runde in der politischen Auseinandersetzung vor. In der Kreuzberger Kneipe werden dann die Köpfe zusammengesteckt und das anzupackende Problem wird von allen unmöglichen und möglichen Seiten beleuchtet. Diesmal geht es um den Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung. Matthias möchte Ideen sammeln, wie DIE LINKE dem Thema zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen kann.
Für den promovierten Soziologen ist das Anhören und Ausloten anderer Sichtweisen ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit. Bis ein entsprechender Gesetzentwurf formuliert ist, werden noch etliche Wochen vergehen. Macht ihm diese mitunter langwierige Arbeit Spaß? Matthias überlegt einen Moment, sein Blick wird schelmisch. »Das, was ich bisher ehrenamtlich gemacht habe, bekomme ich jetzt bezahlt.« Bedächtiges Überlegen und der verborgene Schalk gehören zu Matthias wie der Mast zu seinem Segelboot, auf dem er einen Teil seiner Freizeit verbringt. Neulich tuckerte er früh um sechs Uhr mit 5 km/h auf der Spree an seinem Arbeitsplatz Bundestag vorbei. Hinter ihm lagen vier Wochen Küstensegeln. Sich erst vor Rügen und Usedom die Segel aufblähen lassen und dann von Stettin zurück zum Müggelsee schippern - das war die perfekte Entspannung vom politischen Alltag.
Von sich selbst erzählt der schlaksige 1,85-Meter-Mann in einer sehr reduzierten Art und Weise. Nach der Schule absolvierte der 1969 in Leipzig Geborene eine Lehre zum Restaurantfachmann. Im Sommer 1989 ist er über Ungarn nach Westdeutschland gekommen. Seine Eltern flüchteten einige Monate zuvor, und er folgte nur, weil er es ihnen versprochen hatte. »Als ich im Herbst 1989 in Düsseldorf vor dem Fernseher saß, dachte ich, ich bin am falschen Ort. Schritt für Schritt bewegte sich in der DDR etwas und ich wollte ja auch etwas bewegen.«
Als Jugendlicher landete er auf der »Suche nach moralischer und ethischer Orientierung« in einer Kirchengruppe. »Dort habe ich den Freiraum gefunden, von dem es in der DDR viel zu wenig gab.« Die politische Bevormundung und das Fehlen persönlicher Freiheiten gingen ihm gegen den Strich. »Die Verwirklichung der Menschenrechte, zu denen sich auch die DDR mit der Unterschrift unter die Schlussakte von Helsinki bekannt hatte, lag uns am Herzen. Wir wollten den Sozialismus verändern, nicht abschaffen.«

Hausbesetzer auf der Suche nach dem richtigen Leben

Er wollte so leben, wie es ihm gefiel. In Leipzig zog er 1988 in ein besetztes Haus. Mit Freunden wurde im Erdgeschoss ein Club eingerichtet. »An den Wochenenden kamen 150 Leute und die haben bis früh um sechs getanzt. Toll war das!« Zwei Jahre später - der Politaktivist war inzwischen nach Berlin gezogen - beteiligte er sich an einer Hausbesetzung in der neu entstehenden Mitte der Hauptstadt. »Ich wollte andere Lebensformen ausprobieren«, nennt er diese Lebensphase. Und er war auf der Suche nach seiner beruflichen Zukunft. »Ursprünglich wollte ich Umweltschützer werden.« Dann stellte er fest, dass ihn weniger die naturwissenschaftlichen als vielmehr die gesellschaftlichen Ursachen interessierten, warum die Umwelt gegen die Wand gefahren wird. »Das hing auch damit zusammen, dass ich schon lange wissen wollte, wie der Kapitalismus funktioniert.« So kam er zum Studium der Soziologie an die FU Berlin, damals noch ein Ort, an dem politische Ökonomie und Klassentheorie gelehrt wurde. »Inzwischen alles wegmodernisiert, leider«, bedauert Matthias. Nach dem Studium geht er für einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Universität Jena. Dort forscht er über die Entwicklung von Arbeitsmärkten und Unternehmen. Im Jahr 2005 folgt die Promotion, eine Auseinandersetzung mit der Frage, worin eigentlich die Rationalität ökonomischen Handelns liegt. »Viele Ökonomen behaupten, Unternehmen müssten statt unbefristeter Beschäftigter mehr Leiharbeiter beschäftigen, weil sie nur so flexibel auf Absatzschwankungen reagieren könnten.« Die Politik greife solche Behauptungen auf und begründe damit den Abbau von Schutzrechten. Doch für Unternehmen gebe es viele Möglichkeiten, um sich den jeweiligen Bedingungen anzupassen, kritisiert der Soziologe. Was ökonomisch sinnvolle Personalpolitik sei, werde von Ökonomen der neoliberalen Denkrichtung vorgegeben; der entgegengesetzte Ansatz werde kaum noch wahrgenommen. »Deshalb haben wir es mit einer gesellschaftlich gemachten Rationalität zu tun«, fasst Matthias seine Erkenntnisse zusammen. Es gehört wohl zu den glücklichen Umständen, die wenig beeinflussbar sind, dass Matthias Hinze 2005 seinen heutigen Chef kennenlernte. Vor der vorgezogenen Bundestagswahl half er mit, in Fulda den WASG-Landesverband Hessen aufzubauen. Hier traf er den IG-Metall-Sekretär Werner Dreibus. Nachdem dieser für DIE LINKE in den Bundestag gewählt wurde, fragte er Matthias, ob er für ihn arbeiten wolle. Er wollte.

Demokratie hinter den Betriebstoren ausbauen

Als gewerkschaftspolitischer Sprecher sei er für »alles zuständig, was mit A wie Arbeit anfängt«, hat Dreibus mal gewitzelt, »und Matthias muss das alles irgendwie auf die Reihe bekommen.« So wurde der 39-Jährige zum »Vorarbeiter« des Abgeordneten. »Werner und ich sind uns einig, dass der Austausch mit den außerparlamentarischen Akteuren an erster Stelle stehen muss. Wir begreifen das Parlament als Bühne, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen.« Mit der Mindestlohnkampagne ist das sehr gut
gelungen. »Gemeinsam mit den Gewerkschaften haben wir unsichere und schlecht entlohnte Arbeit zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung gemacht und beschäftigen damit seit Anbeginn unserer Fraktion die Republik«, bekräftigt Matthias. Das wird mit dem Thema betriebliche Mitbestimmung ungleich schwieriger werden. Doch gerade weil »die Politik in den vergangenen zwanzig Jahren dafür gesorgt hat, dass Unternehmen heute kaum noch Rücksicht auf die Menschen nehmen müssen, ist es an der Zeit, die Demokratie hinter den Betriebstoren auszubauen.« Nach dem Kneipenabend macht sich Dreibus’ zweiter Kopf an die Bestandsaufnahme. Das geht von der Recherche zur aktuellen Gesetzlage über die Forderungen der Gewerkschaften bis hin zu Expertengesprächen. In diesen Tagen wird ein Eckpunktepapier der Linksfraktion verschickt, um Meinungen einzuholen und Standpunkte auszuloten. Erst danach entsteht der erste Gesetzentwurf.
Dabei geht es ihm auch darum, dass die Menschen von Anfang an in parlamentarische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. »Die Kassiererin im Supermarkt, der Betriebsrat in der Metallbude und die Ein-Euro-Jobberin, die wissen ganz genau, was in unserer Gesellschaft verkehrt läuft. Und deren Interessen bilden die Grundlage unserer Politik.«
Nach drei Jahren Linksfraktion im Bundestag ist für Matthias Hinze ein Fortschritt spürbar: Vielen Menschen wird bewusst, dass die heutige Gesellschaft nicht das Ende der Geschichte ist. »Das ist der erste Schritt auf dem Weg der Veränderung.«