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Ein Davidstern an der Stelle der in der Pogromnacht am 9. November 1938 zerstörten Synagoge in Schwerin © dpa/Bernd WüstneckFoto: dpa/Bernd Wüstneck

Der Schicksalstag

Nachricht von Dietmar Bartsch,

Von Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Fraktion DEI LINKE. im Bundestag

 

Der 9. November gilt als Schicksalstag der Deutschen. Seit achtzig Jahren, seit dem 9. November 1938, ist er vor allem ein Schicksalstag der Jüdinnen und Juden. An jenem Tag brannten überall in Deutschland Synagogen, wurden Geschäfte und Wohnungen gebrandschatzt und geplündert, wurden jüdische Landsleute geschlagen, gejagt oder zu Tode geprügelt. Um den 9.11.38 wurden im Deutschen Reich etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Die von den Nazis euphemistisch als „Reichskristallnacht“ bezeichneten Ereignisse waren die Vorboten eines historisch beispiellosen Feldzuges gegen eine Religion und Kultur, der sechs Millionen Jüdinnen und Juden das Leben kostete. Aus Diskriminierung wurde blanke Gewalt, was mit Hetze und Verleumdung begann führte zum Massenmord. Aus Antisemitismus erwuchs Völkermord. Die Pogrome vom November 1938 und der ihnen folgende Holocaust waren mitnichten ein unabwendbares Schicksal. Viele, viel zu viele, schauten zu oder schauten weg, etwa 500.000 Deutsche, so haben es Forscher ermittelt, waren in irgendeiner Weise direkt am Holocaust beteiligt.

Bei Bertolt Brecht ist zu lesen: „Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert / Und handelt, statt zu reden noch und noch / So was hätt' einmal fast die Welt regiert! / Die Völker wurden seiner Herr, jedoch / Daß keiner uns zu früh da triumphiert / Der Schoß ist fruchtbar noch,aus dem das kroch!“ Viele, ich schließe mich ein, glaubten, Brechts Warnung könnte endlich ihren Platz in den Geschichtsbüchern finden. Heute wissen wir, dem ist nicht so. Doch Brechts Stück heißt „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Einhalt zu gebieten, ist möglich und nötig. Jede und jeder ist gefordert, sich Rechtsextremismus und Antisemitismus entgegenzustellen, statt deren Prediger zu tolerieren, ihnen zu applaudieren oder  hinterherzulaufen. Von Politik und Rechtsprechung erwarte ich, dass sie Zivilcourage stärken und entsprechende gesellschaftliche Initiativen ermutigen. Antifaschistin oder Antifaschist zu sein, muss ein Ehrentitel sei. Und ich stimme dem im April dieses Jahres in München verstorbenen Antifaschisten Martin Löwenberg ohne Wenn und Aber zu, wenn dieser erklärte: „Die Farbe des Antifaschismus ist nicht rot – sondern bunt wie die Spektralfarben des Regenbogens.“

Ich sehe es als eine Stärke unserer Demokratie, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland wieder ein reiches und buntes jüdisches Leben entwickeln konnte. In diesem Jahr zählt zum Gedenken auch ein Jüdischer Zukunftskongress und ich finde es großartig, dass zu denen, die diese Veranstaltung auf den Weg brachten und unterstützten, Klaus Lederer, unser linker Berliner Kultursenator, zählt. Das Aber folgt leider auf dem Fuße: Am 9. November 2018 ist es zutiefst beschämend, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland oder anderswo in Europa beleidigt oder bedroht werden, dass einige von ihnen daran zweifeln, hier länger ihren Lebensmittelpunkt haben zu können. Dass Antisemitismus überhaupt noch da ist, ist schlicht und ergreifend eine Schande.

Der Staat Israel beging in diesem Jahr den 70. Jahrestag seiner Gründung. Durch Auschwitz ist Israel zu einer Notwendigkeit geworden. Der Staat ist eben auch entstanden, damit Jüdinnen und Juden überall auf der Welt in dem Fall, dass ihr Leben bedroht ist, einen sicheren Hafen haben. Es ist für mich unglaublich bedrückend, sehen zu müssen, dass dieser Hafen weiterhin benötigt wird. Aus dem Holocaust erwächst eine besondere Verpflichtung auch für DIE LINKE in Deutschland, für das Existenzrecht Israels einzutreten. Das schließt unsere kritische Sicht auf die israelische Siedlungspolitik ebenso ein wie unsere Besorgnis über den staatlichen Druck auf israelische Nichtregierungsorganisationen wie auch Parlamentarier, die der israelischen Besatzungspolitik in den Palästinensergebieten kritisch gegenüberstehen.

Als Bundestags-Fraktionsvorsitzender war ich bisher zwei Mal in Israel. In Yad Vashem habe ich der der Opfer des Holocaust gedacht und mich vor dem Gerechten unter den Völkern verneigt. Es gibt dort auch ein „Denkmal für die Kinder“, das 1,5 Millionen von Nazis ermordeten Kindern gewidmet ist. Von einem Band werden Namen, Alter und Geburtsort dieser Kinder abgespielt. Alle auch nur ein einziges Mal zu nennen, dauert etwa drei Monate. Das nimmt einem den Atem.

Bei Gesprächen mit Staatspräsident Reuven Rivlin und mit Politikerinnen und Politikern von Regierungs- und Oppositionsparteien, bei Begegnungen in der Knesset, in Kibbuzim oder bei Start-up-Unternehmen ging es stets auch um gegenwärtige und künftige Herausforderungen. In beiden Ländern wachsen sowohl die Kluft zwischen Arm und Reich als auch Kinder- und Einkommensarmut. Wohnungsnot und galoppierende Mieten bringen Menschen hier wie da in existenzielle Nöte und Populisten vom rechten Rand wollen daraus Kapital schlagen.

DIE LINKE und DIE GRÜNEN haben zum 70. Jahrestag Israels einen gemeinsamen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir verweisen auf die herausragende Bedeutung dieser Staatsgründung sowie auf die historische Verantwortung Deutschlands für die Existenz und Sicherheit Israels und fordern die Bundesregierung unter anderem auf, sich für eine Lösung des Nahost-Konflikts auf der Basis des Völkerrechts und der Zwei-Staaten-Regelung einzusetzen. Zudem halten es die beiden Bundestagsfraktionen für zwingend erforderlich dafür Sorge zu tragen, dass die Erinnerung an die Shoah und die damit einhergehende historische Verantwortung in der Bevölkerung und insbesondere unter jüngeren Deutschen sowie unter neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern lebendig erhalten wird: Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit kann und darf es nicht geben.