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Das »Turbo-Abitur« muss wieder abgeschafft werden

Interview der Woche von Nele Hirsch,

Nele Hirsch resümiert die Ergebnisse des Bildungsstreiks im Juni: Das Engagement der Betroffenen ist weiter notwendig, damit die Ansätze nicht wieder versanden. Weitere Themen: das von der großen Koalition geschaffene Mitwirkungsverbot des Bundes in der Bildungspolitik, der Bologna-Prozess und die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Jahre.

Der SPD fällt einige Wochen vor der Wahl ein, sie wolle das Grundgesetz ändern, um endlich in der Bildungspolitik voranzukommen. Was ist von diesen Vorschlägen zu halten?

Nele Hirsch: Das ist ein Wahlkampfmanöver. Aber die LINKE begrüßt es natürlich, wenn sich die SPD da korrigiert. Die SPD war schließlich im entscheidenden Maß daran beteiligt, das Land mit der Föderalismusreform in die Bildungssackgasse zu steuern. Die entsprechende Grundgesetzreform, die ein umfassendes Mitwirkungsverbot des Bundes an der Bildungspolitik der Länder zementierte, wurde von Müntefering selbst ausgehandelt und von der SPD mitbeschlossen. Das war katastrophal, weil es die ohnehin schon ungerechte Ungleichheit im Bildungsbereich verschärfte. Wir brauchen aber bundesweit einheitliche Bildungsstandards und eine hinreichende finanzielle Ausstattung des Bildungssystems - unabhängig von der Wirtschaftskraft der einzelnen Bundesländer.

Auch nach dem »Pisa-Schock« hat sich letztlich wenig im Bildungsbereich verbessert. Und Eltern wie SchülerInnen sprechen sich zunehmend gegen ein föderales Bildungssystem aus. Was wäre jetzt nötig, um wieder zu einer einheitlicheren Bildungspolitik zu kommen?

Die von SPD und CDU/CSU beschlossenen Grundgesetzänderungen müssen einerseits zurückgenommen werden. Die Bildungspolitik darf in der Bundespolitik nicht mehr unter die Räder kommen. Wir setzen uns deshalb schon lange dafür ein, dass eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz verankert wird. Anderseits müssen die Bildungsausgaben deutlich erhöht werden. Es geht nicht nur um ein einheitlicheres Bildungssystems, sondern auch um bessere Bildung für alle. DIE LINKE fordert deshalb die Erhöhung der öffentlichen Bildungsausgaben auf mindestens 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Nur so kann es zu mehr Qualität im Bildungssystem kommen.

Im Juni fand der bundesweite Bildungsstreik statt. Selbst die CDU musste einräumen, dass der Streik nicht unberechtigt ist. Was hat der Streik gebracht?

Der Streik hat das Thema in die Öffentlichkeit getragen und viele Schülerinnen, Schüler, Studierende und Auszubildende ermutigt, für ihre Interessen aktiv zu werden. Wichtig ist jetzt, nicht stehen zu bleiben. Die derzeitige Debatte über die Reform der Master-Studiengänge ist ein wichtiges Ergebnis des Streiks. Wir brauchen aber weiter das Engagement der Betroffenen, damit diese Ansätze nicht wieder versanden. Denn wir wollen für alle die Möglichkeit haben, nach dem Bachelor auch einen Master zu absolvieren und zwar ohne Stress und Verschulung. Nach dem Streik sind die anderen Parteien da druckempfindlich und das wird auch die LINKE ausnutzen.

Zentrales Thema ist immer wieder der Bologna-Prozess, also die Harmonisierung der Studienbedingungen in der EU. Obwohl sich alle einig scheinen, dass dies sinnvoll ist, ist die Umsetzung unzureichend. Woran liegt das?

Das Ziel, einen europäischen Hochschulraum zu schaffen, ist eine gute Idee. Nur bei dem so genannten Bologna-Prozess stimmt der Grundansatz leider überhaupt nicht. Der nämlich orientiert vornehmlich auf wirtschaftliche Ziele. Soziale Belange und die wirkliche Förderung von Bildungs- und Wissenschaftsqualität sind leider in den Hintergrund getreten. Auch die eigentlichen Betroffenen, die Studierenden nämlich, wurden weder bei der Programmformulierung noch bei der Umsetzung wirklich beteiligt. Das ist ein zutiefst undemokratisches Politikverständnis. Ziel muss deshalb jetzt sein, den Bologna-Prozess vom Kopf auf die Füße zu stellen, die Studierenden zu beteiligen und den sozialen Faktor mit zu denken. Für mich heißt das vor allem auch: Das Studiengebührenverbot durchsetzen!

Aus vielen Bundesländern wird über den massiven Stress für Schülerinnen und Schüler berichtet, den die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre mit sich bringt. Sind Korrekturen zu erwarten?

DIE LINKE wird in jedem Fall auf Korrekturen bestehen: Das so genannte Turbo-Abitur muss wieder abgeschafft werden. Wenn ich mit Lehrerinnen und Lehrern oder Eltern spreche, höre ich nur, wie unsinnig diese Reformen waren und wie extrem der Leistungsdruck angewachsen ist. Das führt nicht selten zu psychischen Problemen. Die anderen Parteien warten derzeit noch alle ab und beschönigen die Probleme. Die müssen wir jetzt in die Echtzeit katapultieren - gerade jetzt im Wahlkampf.

www.linksfraktion.de, 19. August 2009