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»Das muss uns besser gelingen«

Interview der Woche,

Gabi Zimmer im Gespräch mit Jean-Claude Juncker, der sich am 9. Juli 2014 als Kandidat für das Amt der EU-Kommissionspräsidenten den Fragen der Abgeordneten der Linksfraktion im Europaparlament stellte. Foto: flickr.com/guengl

 

Gabi Zimmer, Vorsitzende der Linksfraktion im Europaparlament, über den neuen Präsidenten der EU-Kommission, seine Erfahrungen in den Brüsseler Hinterzimmern und sein Verhältnis zu Kanzlerin, über die Erwartungen der Linken an die neue Kommission und die eigenen Schwerpunkte der um 50 Prozent gewachsenen linken Fraktion

 

Erstmals in der Geschichte schickten die europäischen Parteien bei der Europawahl Spitzenkandidaten für das Amt der Präsidentin oder des Präsidenten der EU-Kommission ins Rennen. Am vergangenen Dienstag hat das Europaparlament Jean-Claude Juncker in dieses Amt gewählt. Sie sehen darin aber keinen historischen Sieg für die Demokratie, von dem viele reden, sondern sprachen in Ihrer Rede am vergangenen Dienstag von einer bröckelnden Fassadendemokratie.

Gabi Zimmer: Junckers Konservative holten die meisten Stimmen. Der Rat kam nicht daran vorbei, den Wahlausgang in seinen Vorschlag für den Chefposten der Kommission einzubeziehen. Trotzdem haftet dem Ganzen das Geschmäckle der Kungelei an. Wird die Demokratie gestärkt, wenn Posten gegen Posten gedealt wird? Kommissionspräsident der Konservativen gegen Präsident des Europaparlaments für die Sozialdemokraten? Die GroKo wurde in Brüssel um die Liberalen erweitert. Sie dealen die Posten und organisieren unter dem Deckmantel der Allianz gegen die Rechtsextremen im Parlament die Gleichsetzung und Ausgrenzung der Parteien "am Rand", der "Extremen".

Die Linksfraktion hat nicht für Jean-Claude Juncker gestimmt. Sie haben ihm allerdings Unterstützung angeboten für den Fall, dass er für die Verbesserung von Lebensverhältnissen der Menschen eintritt. War das eine grundsätzliche Ankündigung oder gibt es hierzu bereits Vorhaben, mit den sich das Europaparlament in naher Zukunft befassen wird?

Juncker ist einer der Väter der bisherigen EU-Wirtschafts- und Währungspolitik, die uns in die größte Krise der EU führte. Er unterstützt die unsozialen Kürzungsdiktate und will das Freihandelsabkommen TTIP. Er ist für uns Linke nicht wählbar. Trotzdem haben wir ihm genau zugehört und werden ihn an seinen vagen Versprechungen messen. Was meint er, wenn er die Troika demokratisieren will? Was versteht er unter "sozialen Mindestlöhnen"? Sollen diese armutsfest sein? Er will künftig die sozialen Folgen untersuchen lassen, die EU-Maßnahmen in Krisenländern haben. Wird er dann zu Gunsten der Bevölkerungsmehrheit entscheiden? Werden soziale und ökologische Mindeststandards, nachhaltige Beschäftigung, regionale Entwicklungen wichtiger als Wünsche der Konzerne und Banken?

Juncker spielt eine gefühlte Ewigkeit ganz vorn in der Europapolitik mit. Man könnte meinen: Der braucht als neuer Kommissionspräsident keine 100 Tage Schonfrist. Oder?

Juncker gehört seit den 80ern zur EU-Elite, als Luxemburger Finanz- und als Premierminister. Kein Politiker hat sich länger in den berüchtigten Hinterzimmern aufgehalten, in denen die meisten Entscheidungen getroffen werden. Meist am Parlament vorbei. Aber als Kommissionspräsident hat er eine andere Aufgabe. Er muss die Interessen aller Mitgliedstaaten und der europäischen Bürgerinnen und Bürger im Blick behalten. Eine nationale Sicht kann er sich nicht erlauben. Aber er ist kein Lautsprecher und spielt den durchaus netten Macho. Schonen werden wir ihn trotzdem nicht. Von Anfang an.

Einige erhoffen sich, Juncker könne als Kommissionspräsident ein Gegengewicht zu Kanzlerin Merkel sein. Was meinen Sie?

Juncker mag wohl vor allem Merkel nicht, weil sie als in Ostdeutschland aufgewachsene Frau einfach anders ist, nicht so den gängigen Klischees entspricht. Er ist aber der europäische Kandidat der EVP und der deutschen Kanzlerin. Merkels Gegenspieler ist er ganz sicher nicht. Wir werden gern unseren Beitrag leisten, um die Widersprüche zwischen ihm und Merkel zu schärfen. Stichwort sozialer Mindestlohn. Sozial kann ein Mindestlohn ja nur sein, wenn er armutsverhindernd ist. Wir werden von Juncker fordern, dass er den nationalen Regierungen eine entsprechende EU-Initiative vorlegt. Dann wird er sich gegen Merkel stellen müssen.

Welche Schwerpunkte hat sich die Linksfraktion selbst für die ersten Monate gesetzt?

Juncker will sein Programm mit seiner ab November neu aufgestellten Kommission umsetzen. Vorher werden wir die Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommission in den Anhörungen auf Herz und Nieren prüfen. Gleichzeitig geht das Leben außerhalb des Raumschiffs EU weiter. Der Ukraine-Konflikt, die Jugendarbeitslosigkeit, Protest gegen TTIP, Investitionsprogramme für nachhaltige Entwicklungen und die Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts sind ein kleiner Auszug. Mit unseren neuen Fraktionsmitgliedern bearbeiten wir ein breiteres Spektrum an Themen. Wir werden uns intensiver den Friedensprozessen zwischen Bevölkerungsgruppen und Regionen in der EU zuwenden, Fragen des Tierschutzes aufgreifen und verstärkt Ansprechpartnerin für europäische Bewegungen und Netzwerke sein.

 

Juncker-Anhörung am 9. Juli 2014 im Fraktionssaal der Linksfraktion in Brüssel



Die Linksfraktion ist zahlenmäßig größer geworden. Ist sie auch stärker?

Die Fraktion ist um 50 Prozent gewachsen. Das fällt in Gremien und Ausschüssen auf jeden Fall ins Gewicht. Durch die größere Vielfalt haben wir mehr Schlagkraft. PODEMOS aus Spanien, LISTA TSIPRAS aus Italien - mit ihnen öffnen wir uns für ganz andere Bevölkerungsgruppen. Das tut uns gut. Barbara Spinelli und Manolis Glezos sind zwei jener Abgeordneten, die in ihren Ländern prominent für Widerstand und ein anderes Europa stehen. Dieses Moment dürfen wir als Linke nicht verspielen. Das fordert uns in unserem Selbstverständnis und unserer Zusammenarbeit heraus. Aber ich gebe zu, dass wir uns auf dem Weg zu mehr politischer Gemeinsamkeit manchmal ganz schön gegenseitig auf die Probe stellen.

Wir alle haben diese Wahl verloren. Das waren Ihre Worten, als Sie den Konservativen, der stärksten Fraktion im Europaparlament, vorrechneten, dass die Zahl derer, die bei der Wahl am 27. Mai nicht wählen gingen oder rechtsextreme und europafeindliche Parteien wählten, dreimal so hoch war, als die derer, die den Konservativen ihre Stimme gaben. Worin machen Sie eine kollektive Schuld aus, an der auch die europäische Linke beteiligt ist?

Mich hat genervt, mit welcher Arroganz die Spitzen der Brüsseler GroKo das Wahlergebnis und die Juncker-Wahl als Sieg feiern. Als ob nicht gleichzeitig weiterhin Millionen Menschen in der EU unter den Kürzungsdiktaten der Regierungschefs leiden. Mit über 50 Prozent wären die Nichtwähler die stärkste Partei. Das ist die Realität. In drei Staaten – Frankreich, Großbritannien und Dänemark – haben radikale rechte Parteien gewonnen. Das ist eine Niederlage der Demokratie! Jean-Luc Mélenchon meinte zu Recht, dass auch wir in vielen Ländern als Teil des Establishments gelten. Wir konnten mit unseren Ideen für eine sozialere, friedliche, demokratische Welt nicht genügend Wähler überzeugen. Das muss uns besser gelingen. 


linksfraktion.de, 21. Juli 2014