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Foto: Rico Prauss

Auf die Perspektive kommt es an

Kolumne von Dietmar Bartsch,

Von Dietmar Bartsch, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

 

 

Radfahrer nerven und sind gefährlich. Wenn sie morgens in Rudeln Unter den Linden langziehen, behindern die einen mit ihrer Trödelei einen flüssigen Verkehr, die anderen kommen an Kreuzungen mit Affenzahn von hinten angeschossen und zwingen Abbieger zu Vollbremsungen.

Autofahrer nerven und sind gefährlich. Wenn sich morgens die Blechlawine Unter den Linden langwälzt, kleben die einen penetrant am Hinterrad sich aus Leibeskräften abstrampelnder Radler, die anderen brettern dermaßen über den Boulevard, dass der Sog die auf den Rädern fast aus den Sätteln hebt.

Wer gelegentlich vom Auto auf das Rad umsteigt oder das Umgekehrte tut, merkt schnell: Auf die Perspektive kommt es an. Auch wir im Bundestag sind gut beraten, stets auf die Perspektive zu achten und die Welt der Akten und Anträge, Anhörungen und Ausschüsse, Abstimmungen und Anfragen nicht mit dem wirklichen Leben gleichzusetzen. Wohl auch deshalb teilt sich für uns das Jahr etwa hälftig in Berliner Sitzungswochen und eine Zeit, in der wir im Wahlkreis und anderswo mit Bürgerinnen und Bürgern im Gespräch sein sollen, uns in Betrieben, Kommunen, Verbänden, Kultureinrichtungen u.s.w. umschauen. "Dem Volk aufs Maul schauen", hat Martin Luther dazu gesagt.

Selbstverständlich hat das, was wir im Bundestag und unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament oder in den Landtagen tun, sehr viel mit dem realen Leben zu tun, und wir Abgeordnete sollten uns dessen sehr wohl bewusst sein. Manches, was in den Parlamenten mit Mehrheiten beschlossen wird, ist wenig bis gar nicht im Sinne des Volkes. Deshalb ist die Opposition auch immer wieder gefordert gegenzuhalten. Die richtige Perspektive einzunehmen, heißt dann, die Dinge mit den Augen so genannter einfacher Leute zu sehen und immer wieder an Kriterien sozialer Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Friedfertigkeit zu prüfen. Wir heißen es deshalb nicht gut, wenn auf Bundesebene Gesetze beschlossen werden, für deren Finanzierung die klammen Kommunen in die Pflicht genommen werden. Wir stimmen dagegen, wenn Banken mit Milliarden gerettet und Erwerbslose mit Almosen abgespeist werden. Wir erheben unsere Stimme, wenn menschrechtsverachtende Regimes aus Deutschland mit Waffen versorgt werden.

Bei Kabarett-Autor Peter Ensikat las ich: "Das Politbüro der SED hatte eines gemeinsam mit dem Vorstand der Deutschen Bank. Beide wurden und werden nicht vom Volke gewählt, und beide hatten beziehungsweise haben zu viel Macht. Es sind nicht die Unterschiede zwischen den beiden von mir erlebten Systemen, die mich erschrecken. Es sind die Ähnlichkeiten." Da ist manch Wahres dran. Bei Bundestagswahlen geht es scheinbar um die Macht. Real sagt Herr Ackermann allerdings viel eher, wo es lang geht, als Angela Merkel. Politik, Parlamente und Abgeordnete werden ihrer Macht beraubt und stehen unter dem Diktat der Finanzmärkte. Wir haben auch eine Krise der Demokratie. Damit wollen wir uns nicht abfinden.

Deshalb soll es beim 2. Parlamentariertag der Partei DIE LINKE am 16. und 17. Februar auch darum gehen, wie wir unsere parlamentarische Arbeit in der Krise weiter gestalten. Bei dem Treffen in Kiel möchten LINKE-Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Bundestages und von Landtagen einen besonderen Akzent darauf setzen, dass unsere Partei für ein anderes, für ein soziales und demokratisches Europa steht. Deshalb werden wir zum Parlamentariertag auch mit ausländischen Gästen, beispielsweise mit Genossinnen und Genossen aus der Partei der Europäischen Linken und aus der Linksfraktion im Europaparlament, diskutieren. Was skrupellose Hasardeure unter Duldung der Politik, oft durch diese regelrecht ermuntert, angerichtet haben, müssen Arbeiterinnen und Arbeiter, Erwerbslose, Studierende, Seniorinnen und Senioren ausbaden – nicht die Bankiers, nicht die Millionäre. Das ist in Berlin so wie in Athen, in Paris wie in Lissabon. Also: Auch was "pro europäisch" ist, ist eine Frage der Perspektive.

Parlamente sind nicht der Nabel der Welt. Wir Abgeordnete sollten uns nicht "oben" wähnen, weshalb unser Tun auch nicht "unten ankommen" soll. Wir sollten uns als Interessenvertreter unserer Wählerinnen und Wähler begreifen und – besser noch – politische Konzepte im stetigen Kontakt mit ihnen entwickeln. "Auf Augenhöhe" ist eine gute Perspektive - selbst für einen mit 1,93 Meter.