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Atlantiker übernehmen das Ruder

Im Wortlaut von Alexander S. Neu,

Kolumne

 

Alexander Neu über den NATO-Gipfel im walisischen Newport, den Wertekanon des Militärbündnisses und das Ausbleiben von Selbstkritik einzelner Mitgliedsstaaten

Der NATO-Gipfel, der momentan in Wales stattfindet, hat es mit brisanten politischen Krisen zu tun. Wie werden die Politiker und Funktionäre der Mitgliedsstaaten darauf reagieren? Wird das Gremium Lösungen vorschlagen, um die Krisenherde zu befrieden? Wohl kaum.

Das Problem Nummer 1 ist die Ukraine. Angesichts des Bürgerkrieges schlagen die osteuropäischen Mitgliedsländer vor, die NATO solle Waffenlieferungen dorthin koordinieren, um die pro-russischen Kräfte im Osten des Landes zu schlagen. Die USA, Frankreich und Kanada liefern bereits Kriegsgerät an die Regierungstruppen in Kiew. Der »Readiness Action Plan« von Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, der auf dem Treffen in Newport verabschiedet werden soll, sieht erstmals die Stationierung von Bodentruppen der westlichen NATO-Staaten direkt an den russischen Grenzen vor. Die osteuropäischen Überzeugungstäter wollen die NATO-Russland-Akte über gegenseitige Zusammenarbeit und Sicherheit abschaffen. Ein öffentliches Nachdenken, gar Selbstkritik an der bisherigen Ukraine-Strategie bei auch nur einer Regierung? Fehlanzeige.

Das zweite Problem ist Nordirak. Die Miliz »Islamischer Staat« wird nicht als ein Phänomen der sunnitischen Rebellion in einem gescheiterten Staat dargestellt, sondern als abgrundtief böse und unmenschlich. Der Vergleich mit zahlreichen anderen Bürgerkriegen braucht erst gar nicht angestellt zu werden, um zu erkennen, wie willkürlich das Gerede von einem irakischen Genozid ist, auf den die NATO angeblich reagieren muss. Selbstkritik zum Beispiel aus den Reihen jener »Koalition der Willigen«, die mit dem Angriffskrieg vor mehr als zehn Jahren Saddam Hussein stürzte und so den säkularen Irak mutwillig zerschlug? Auch hier wieder Fehlanzeige.

Das ständige Einmischen in innerstaatliche Konflikte ist das Ergebnis einer Doktrin, die sich die NATO Ende der 1990er Jahre mit dem »Neuen Strategischen Konzept« gab. Dort erklärte sie sich selbst zur globalen Ordnungsmacht. Die Doktrin fand ihre Entsprechung in der Idee von einem »neuen liberalen Imperialismus«, der die Staaten des Westens ermächtigt, »Demokratie« und »Freiheit« in die Welt zu tragen.

Und die deutsche Außenpolitik? Die Bundesregierung will die Krise in der Ukraine und Irak dazu nutzen, um aller Welt zu zeigen, was Bundespräsident Joachim Gauck mit der »Übernahme von Verantwortung« gemeint hat. Schwarz-Rot übt sich dabei demonstrativ im Schulterschluss mit den übrigen NATO-Staaten. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wird nicht müde, die »gemeinsamen Werte« zu betonen, die dem Militärbündnis zugrunde liegen. Doch wessen Werte repräsentiert die NATO eigentlich?

Die der deutschen Bevölkerung sicher nicht, so viel steht fest. Das zeigt eine vom Auswärtigen Amt beauftragte Umfrage der Körber-Stiftung: Hier sprechen sich satte 60 Prozent für eine Beibehaltung der Kultur der Zurückhaltung aus. Die Erhaltung von »Frieden in der Welt« wird von einer absoluten Mehrheit (51 Prozent) als das wichtigste Ziel deutscher Außenpolitik gesehen. »Hilfe zur Demokratie« dagegen zählen nur 26 Prozent der Befragten zu ihrem Wertekanon und »Freiheit« sogar nur 16 Prozent. Der Studie zufolge sahen Ende vergangenen Jahres 35 Prozent die USA als einen vertrauenswürdigen Partner in der Außenpolitik an.

In Kürze wird Jens Stoltenberg Rasmussen als Generalsekretär beerben. Der ehemalige norwegische Ministerpräsident hat sich vom NATO-Gegner zum -Funktionär gewandelt. Auch das spricht Bände über die Werte, die das Bündnis nach außen vertritt. Das »alte Europa«, das dem aggressiven Kurs einiger NATO-Staaten einst mit Skepsis begegnet ist, gibt es nicht mehr. Die Atlantiker haben komplett das Ruder übernommen. Wenn das keinen Anlass ist, die Werte dieser Militärallianz in Frage zu stellen – was dann?

Angesichts der Weltkriegsjubiläen in diesem Jahr wäre die Bundesregierung gut beraten, die Idee eines »gemeinsamen europäischen Hauses« von Michail Gorbatschow auf der Grundlage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa neu zu beleben. Auch öffentlich und als Gegenentwurf zum aktuellen Säbelrasseln. Langfristig gibt es keine Alternative zur konsequenten Auflösung der NATO.

neues deutschland, 5. September 2014