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»Armut im Überfluss ist nackte Gewalt«

Interview der Woche von Katja Kipping,

Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, zur geringen Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes

Seit 1. Juli gilt ein Hartz-IV-Regelsatz von 351 Euro, DIE LINKE fordert mindestens 435 Euro. Kann es sein, dass die Bundesregierung den Betrag nur deshalb so gering erhöht hat, weil selbst Kanzlerin Merkel bis zur vergangenen Woche fälschlicherweise davon ausging, dass den Hartz-IV-Beziehenden Strom- und Heizkosten noch obendrauf bezahlt werden?

Die Bundesregierung hat in der Antwort auf meine schriftliche Anfrage den peinlichen Fehler von Bundeskanzlerin Merkel geleugnet. Erst der starke politische Druck durch die LINKE und die Erwerbsloseninitiativen hat sie öffentlich zurückrudern lassen. Die erhöhten Strompreise werden natürlich nicht automatisch durch Hartz IV und die anderen Grundsicherungen abgefangen. Wir fordern ja übrigens auch nicht nur die generelle Erhöhung der Regelsätze als Sofortmaßnahme, sondern auch die jährliche Anpassung an die Lebenshaltungskosten - statt wie bisher an die Rentenentwicklung, woraus dann eben nur die 4 Euro Erhöhung resultieren.

So ganz scheint die Regierung die Augen vor den Nöten der Menschen aber nicht zu verschließen. SPD-Umweltminister Gabriel forderte ja Energie-Sozialtarife.

Man kann für alles mögliche Sozialtarife fordern - letztlich laufen Menschen mit geringem Einkommen nur noch mit ihren Bedürftigkeitsnachweisen von einem zum anderen Unternehmen oder Geschäft, um Sozialtarife zu erhalten. Wir brauchen eine repressionsfreie Grundsicherung, deren pauschalierte Höhe grundsätzlich die Existenz sichert und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, also nicht unter 800 € liegt. Zusätzliche Sonderbedarfe für bestimmte Lebenslagen und -zeiten müssen unbürokratisch gewährt werden. Ich denke da an Alleinerziehende, kranke Menschen, Menschen mit erhöhtem Bildungsaufwand usw.

Ihr Fraktionskollege Ulrich Maurer attestiert der SPD, sie stimme eiskalt für die Fortsetzung der Agenda 2010.

Ich kann in bei der SPD keine Bewegung weg von der Agenda 2010 und von Hartz IV erkennen. Ausnahmen gibt es bei - z. B. bei den Jusos. Deren Vorsitzende will das Repressionsregime von Hartz IV zu Fall bringen, also die Sanktionen abschaffen. Das ist ein Hoffnungslicht im derzeitigen Dunkel der Sozialdemokratie.

Die Preise steigen in allen Bereichen des Lebens - in einigen explodieren sie geradezu. Setzt der Staat auf eine hohe Schmerzgrenze der Bürgerinnen und Bürger, oder ist die Situation einfach noch nicht so brisant, dass er eingreifen müsste?

Der Staat greift nur dann ein, wenn die Legislative dies zulässt. Die große Koalition aus CDU/CSU und SPD lässt kein Eingreifen zu. Oder anders formuliert: Sie lässt zu, dass einige wenige sich auf Kosten vieler bereichern. CDU/CSU und SPD stehen für Fortsetzung des Kurses der Spaltung der Gesellschaft - nicht für die Gewährung sozialer Grundrechte. Die Bürgerinnen und Bürger wissen das. Viele engagieren sich politisch. Mein großer Respekt gilt den vielen Erwerbsloseninitiativen, den Menschen, die wenig materielle Ressourcen haben und trotzdem für ihre Rechte tagtäglich kämpfen: Da muss schon die Fahrkarte zur nächsten Demo vom Munde abgespart werden.

Jedes Schicksal eines von Armut betroffenen Menschen ist auf seine ganz persönliche Weise tragisch. Die Verarmung ganzer Bevölkerungsgruppen hat ja aber auch soziokulturelle Auswirkungen. Wie viel Armut verträgt die reiche Bundesrepublik?

Armut im Überfluss ist nackte Gewalt. Die Armut und Ausgrenzung der einen ist die Verängstigung der anderen. Seht her, jeder und jedem von euch kann es so gehen, wenn ihr nicht mitspielt! Das Rückgrat der Einzelnen soll gebrochen, somit das Rückgrat der Demokratie. Nur der aufrechte Gang der Bürgerinnen und Bürger gründet eine Republik (res publica). Wer diesen bedroht, vereitelt die Gesellschaft, in der jede und jeder seinen Lebenssinn, seine Lebensweg selbstbestimmt suchen kann. Die reiche Bundesrepublik lebt vollkommen unter ihren Verhältnissen - wir können ärmeren Ländern viel mehr geben statt von ihnen zu nehmen - und uns allen mehr Sinnvolles gönnen.

Mit Europa- und Bundestagswahl sowie etlichen Landtagswahlen vor der Tür ist doch aber sicher mit dem einen oder anderen sozialen Geschenk der um ihre Wiederwahl bemühten Regierungsparteien zu rechnen?

Eine oder ein Beschenkte/r hat den Geist und das Recht, das Geschenk wohl zu deuten. Wahlgeschenke sind leicht durchschaubar. Politik besteht nicht darin, das Volk bestechen zu wollen. Politik besteht darin, die Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen und demokratische Prozesse zu befördern. DIE LINKE steht für mehr Demokratie und Freiheit, die das Soziale mit einschließt. Soziale Grundrechte sind keine Geschenke, sie sind voraussetzungslose Rechte aller.

linksfraktion.de, 21. Juli 2008