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Abschied von Solidarität

Im Wortlaut von Bodo Ramelow,

In einer Gastkolumne für die Tageszeitung Neues Deutschland schreibt Bodo Ramelow, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE., über die Föderalismus-Reform, das Verfassungsgebot von der »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« sowie die Neuordnung des Finanzausgleichs.

Wenn der jetzt von der großen Koalition ausgehandelte Kompromiss zur Föderalismus-Reform das Bundesgesetzblatt erreichen sollte, dann kann das Verfassungsgebot von der »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« getrost in einem Anhang zum Grundgesetz endgelagert werden. Denn die entscheidende Konfliktlinie bei der so genannten »Mutter aller Reformen« (Stoiber) verläuft zwischen dem Politik- und Staatsverständnis der Wettbewerbsföderalisten und dem der kooperativen Föderalisten; erst in zweiter Linie geht es um Bund-Länder-Kompetenzen auf den verschiedenen Fachgebieten.

Die Wettbewerbsfanatiker reden einer weit reichenden Neuordnung der Staatsarchitektur das Wort, bei der die jetzt geplanten Reformen nur den ersten Schritt darstellen auf dem Wege zu einer Neuordnung des Finanzausgleichs zwischen den Bundesländern sowie zwischen Bund und Ländern. Am Ende soll eine grundlegende Neustrukturierung der Bund-Länder-Beziehungen bis hin zur Neugliederung des Bundesgebiets stehen.

Ziel ist es, den Verfassungszustand von »vor 1969« wieder herzustellen, das heißt ohne Gemeinschaftsaufgaben, gemeinsame Bildungsplanung und das (jetzige) System des Länderfinanzausgleichs. Speziell aus den wohlhabenderen Südstaaten der Republik wird ein Wettbewerbsföderalismus forciert, der letztlich auf einen Staatenbund der starken und leistungsfähigen Bundesländer hinausläuft.
Es war sicher kein Zufall, dass der »Spiegel« am Tag der Bildungs-Anhörung mit einem Artikel »Föderalismus: Untot in die Pleite« erschien, in dem ausführlich von einem Treffen der »reichen« Bundesländer am Tegernsee berichtet wurde, dessen Kern diese Pläne bestätigte: Die Südstaaten, aber auch Hamburg und Nordrhein-Westfalen wollen sich der gesamtstaatlichen Mitverantwortung für die ärmeren Regionen entledigen - sie schmieden an einem »Pakt für Solidität«, der den Abschied von der Solidarität bedeutet. Was das für die ostdeutschen Länder bringt, kann man sich leicht ausrechnen. Die finanzschwachen Bundesländer werden in eine Kürzungs- und Streichorgie getrieben, wenn sie nicht aufgesaugt oder zerlegt werden wollen.

Für die Bürgerinnen und Bürger heißt das, dass das gesellschaftliche Leben, das gesamte Gemeinwesen immer stärker von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Länder abhängt. Bildungschancen und -qualität, Umweltstandards, Jugendhilfe, Unterstützung für Behinderte, Qualität der Heimunterbringung von Alten und Kranken, Besoldung der Beamten, ja sogar die Bedingungen im Strafvollzug werden dann in immer höherem Maße von der Kassenlage des Landes geprägt sein, in dem man wohnt.
Kein Zweifel: Der deutsche Föderalismus befindet sich in einem sklerotischen Zustand und er bedarf einer Generalüberholung. Wer die Zahl der vom Bundesrat zustimmungsbedürftigen Gesetze drastisch reduzieren, die übermäßige institutionelle Verflechtung von Bund und Ländern entzerren oder undurchschaubar gewordene Mischfinanzierungsaufgaben vereinfachen, bisweilen auch abschaffen will, kann auf die Unterstützung der Linken zählen.

Die jetzt verabredeten Koalitionspläne hingegen kommen einem Staatsstreich gleich und dürfen von den betroffenen Bürgern, darunter Eltern, Lehrern und Schülern nicht kommentarlos hingenommen werden. Der Deutsche Bundestag muss, wenn er sich als Gesetz gebende Versammlung ernst nimmt und nicht zum Abnickverein der Pläne von Stoiber, Koch und Co. werden will, die vielfältige und mehrheitliche Kritik der Sachverständigen in den Anhörungen gründlich auswerten und Konsequenzen ziehen. Damit das geschehen kann, ist eine Entscheidung über die Föderalismus-Reform nach die Sommerpause zu verschieben. Soviel Respekt vor dem Grundgesetz sollte das Parlament noch haben.

Neues Deutschland, 24. Juni 2006