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23 Jahre deutsche »Einheit«. Eine Sicht auf Sachsen.

Im Wortlaut von Jörn Wunderlich,

Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit propagiert ein „Weiter-so“ in der Vereinigungspolitik; reicht das wirklich aus oder ist es gar falsch?

Von Jörn Wunderlich, Richter am Amtsgericht und Mitglied der Fraktion DIE LINKE seit der 16. Legislatur

 

 

 

Vor knapp 23 Jahren kam ich als junger Staatsanwalt von Niedersachsen nach Sachsen. Was hat sich hier bis heute geändert, was ist besser geworden, was muss noch geschehen, was hätte anders laufen können?

Die meisten Häuser sind saniert, die Innenstädte haben Farbe und Flair bekommen. Das Angebot in den Geschäften ist reichhaltig. Man kann das ganze Jahr über Südfrüchte kaufen. Die Luft riecht nicht mehr nach Schwefel, da kaum noch mit Braunkohle geheizt wird. Dafür gibt es jetzt Smog und Umweltzonen, die man aufgrund der erhöhten Schadstoffbelastung der Luft nur noch eingeschränkt befahren darf. Ist die Luft wirklich besser geworden – ich denke sie ist einfach nur anders geworden, was nicht zuletzt dem erhöhten Verkehrsaufkommen geschuldet ist.

Reisefreiheit nützt nicht viel bei einem Stundenlohn von fünf Euro

Heute kann jeder aus Sachsen in die ganze Welt reisen, theoretisch. Wer aus dem Erzgebirge oder Vogtland versucht, seine Familie mit einem Stundenlohn unter fünf Euro über Wasser zu halten, kann dies eben nur theoretisch. Von den Menschen im Hartz-IV-Bezug ganz zu schweigen. Diese haben schon Probleme, sich die Sachen des täglichen Bedarfs zu kaufen. Aber dafür haben wir ja die Errungenschaft der Tafeln. Es ist zwar toll, wie sich Menschen dort engagieren, andererseits ist es für ein so reiches Land wie Deutschland beschämend, dass sich Familien mit Kindern und in letzter Zeit auch zunehmend Rentner und Rentnerinnen bei den Tafeln für Lebensmittel anstellen müssen.

Aber eigentlich kann es nicht verwundern, denn die Löhne sind noch immer niedriger als in den alten Bundesländern. Warum tut man sich so schwer mit der Angleichung und somit der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse? Selbst Kindererziehungszeiten sind im Osten nach Meinung der Regierung weniger wert.

Heute muss sich alles rechnen

Ach ja, die Straßen sind besser geworden. Man kann einerseits auf der Autobahn mit einem VW-Phaeton in eineinhalb Stunden von Polen bis Bayern fahren. Aber wer kann und will das schon und ich weiß nicht, ob dies eine Bereicherung für die Bevölkerung ist, wenn andererseits eine Fahrt mit dem Bus aus dem Erzgebirge nach Chemnitz als Tagestour geplant werden muss. Die Autobahnen werden vier- und sechsspurig ausgebaut, aber der öffentliche Nahverkehr stirbt teilweise. Es ist die Sicht, die sich geändert hat. Heute muss sich alles rechnen und es muss eine entsprechende Rendite herauskommen.

Selbst bei der Polizei spielt Rentabilität eine große Rolle, denn wie anders ist es zu erklären, dass Polizeireviere ersatzlos eingestampft werden. Stellen werden gestrichen, obwohl die Aufgaben umfangreicher geworden sind.

Dies bietet dem Rechtsradikalismus die Möglichkeiten, sich entsprechend auszubreiten. Opfer können teilweise von der Polizei vor rechter Gewalt nicht mehr beschützt werden und müssen deshalb in andere Städte gebracht werden. Vielleicht ist Sachsen ja Vorreiter für ein Opferschutzprogramm, wobei die Gefahr besteht, dass wir in ferner Zukunft mal reine Täterstädte und Opferstädte haben. Ob dies eine Lösung ist, bezweifle ich.

Gibt's was Neues in der politischen Kultur?

Zu DDR Zeiten gab es die Polikliniken mit einer guten ärztlichen Versorgung für jedermann an jedem Ort. Die Polikliniken wurden abgeschafft, heute hat man monatelange Wartezeiten für einen Arzttermin und im ländlichen Raum großflächig fehlende ärztliche Versorgung. Nun werden Polikliniken wieder eingerichtet, heißen aber jetzt Ärztezentren, denn sie sind ja nun eine Erfindung der demokratischen Regierung.

Vor der Wende wurde immer kritisiert, dass die alten SED-Kader auf ihren Stühlen festgetackert waren. Das ist jetzt anders geworden. Wir haben in Sachsen seit 1990 eine CDU Regierung und die klebt an ihren Sesseln, sie sind nicht festgetackert, aber mit den neuesten Klebern aus dem Westen auf ihren Stühlen fixiert. Manch Einheimischer fragt sich inzwischen, was denn nun so großartig anders geworden sein soll bei dieser politischen Kultur. Die Farbe hat sich geändert, aus Rot ist schwarz geworden. Und das Parteibuch ist nach wie vor wichtig. Es sind immer noch die Verhältnisse, die wir nach wie vor ändern müssen.

linksfraktion.de, 20. Februar 2014