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Wer verfügt über unsere Zeit?

Von Katja Kipping, erschienen in Lotta, Ausgabe 11,

Warum brauchen wir selbst die Souveränität über unsere Lebens- und Arbeitszeit? Wie kann sie geschlechtergerecht und sozialistisch gestaltet werden? Jedes Leben ist endlich, begrenzt.

Wenn wir also über Zeitsouveränität reden, reden wir über die Verfügungsgewalt über die eigne, begrenzte Lebenszeit. Die Medaille „Verfügung über Zeit“ hat zwei Seiten. Die eine: Was und wie mache ich etwas in einer bestimmten Zeit? Wer verfügt darüber? Die andere ist: Wie viel Zeit nehme ich mir für dies oder das? Wer verfügt darüber?

Die Feministin Joan Tronto schrieb einmal von der Demokratie als fürsorgliche Praxis. Sie meinte eine Demokratie, in der die Akzeptanz gegenseitiger Abhängigkeit der Menschen voneinander mit der Akzeptanz der Autonomie aller Beteiligten Hand in Hand gehen sollte. Ziel dieser guten fürsorglichen Praxis sei die Entwicklung der Individuen. Eine freie Entwicklung der Individuen als Bedingung für die freie Entwicklung aller, wäre meine Ergänzung.

Sozialismus heißt, Demokratie in der Ökonomie ganz großzuschreiben, ob nun in einer bezahlten oder unbezahlten Arbeit. Geschlechtergerechtigkeit hieße dabei: Gleichberechtigtes Aushandeln, Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen als Ziel, Anerkennung und Respekt vor der Eigenart des/der anderen. Wenn dies ein kulturell-politisches Leitbild wäre, könnten Arbeitsinhalte und Zeitarrangements entlang der Bedürfnisse und der Fähigkeiten der Menschen orientiert sein, statt an der Ausbeutung der Natur und der Lohnarbeitenden und an der doppelten Ausbeutung der Frauen.

Demokratie, Fähigkeiten entwickeln, Bedürfnisse befriedigen – all das braucht seine Zeit. Jede und jeder muss ausreichend Zeit haben: für das demokratische Engagement und für Bildung, für Pflege eines Angehörigen, für ein gutes Buch, für die Auszeit für sich selbst. Meine These ist, dass eine Entschleunigung uns allen gut tun würde – weil sie auf das Wesentliche konzentriert. Den Rhythmus des guten Lebens bestimmt nicht der Takt der Kapitalmaschine. Das Zeithaben muss auch materiell abgesichert werden. Ich plädiere beispielsweise für ein Grundeinkommen, über das DIE LINKE kontrovers diskutiert, für eine öffentliche, gebührenfreie Infrastruktur und Dienstleistungsangebote, für ordentliche Löhne und eine kulturelle und materielle Aufwertung der „frauentypischen“ Erwerbsarbeit. Alles Bedingungen für eine fürsorgliche Ökonomie, die selbst Gegenstand demokratischer Gestaltungsprozesse sind. Der gesellschaftliche Reichtum, um das alles zu ermöglichen, ist vorhanden.

Übrigens: Joan Tronto war der Auffassung, dass Menschen, die sich viel mit der Sorge um und Pflege von Menschen beschäftigen, gute Demokrat*innen abgeben könnten. Weil sie die fürsorgliche Praxis täglich umsetzen, die für die gute Demokratie nötig wäre. Dazu müssten sie aber die Zeit haben. Womit wir wieder bei den kulturell-politischen und materiellen Bedingungen der Zeitsouveränität wären.

Katja Kipping ist Vorsitzende der Partei DIE LINKE und sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE