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»Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren.«

erschienen in Clara, Ausgabe 7,

Die Schließung des Nokia-Werkes in Bochum ist kein Einzelfall: Millionen versenkter Subventionen werden jetzt beklagt. Die Strategien der globalen Konzerne funktionieren prächtig: Profitable Werke werden geschlossen, weil anderswo noch mehr Profit zu holen ist und verantwortliche Politiker von SPD und CDU spielen mit.

Den 15. Januar 2008 wird so schnell keiner von ihnen vergessen. »Ich war am Frühstücken, da kam im Radio plötzlich die Nachricht: Nokia schließt«, erzählt eine ältere Frau, die vor dem Bochumer Werkstor des Handyherstellers auf ihren Schichtbeginn wartet. »Erst hab ich gedacht, die woll’n mich veräppeln!« Doch dann stellte sich heraus, der Konzern aus Finnland meint es ernst.

Vor Weihnachten schoben sie noch Doppelschichten. Die Fünf-Tage-Woche war eh im letzten Quartal 2007 zur Sechs-Tage-Woche geworden. Das Werk war ausgelastet. Die Angestellten arbeiteten seit Jahren zu höchst flexiblen Arbeitsbedingungen. Überstunden, Wochenend- und Feiertagsarbeit waren selbstverständlich. Wenn es an Aufträgen mangelte, wurde kürzer getreten. Weltweit gingen vom vergangenen Oktober bis Dezember 133,5 Millionen Nokia-Handys über die Ladentheken. Und auch die Bochumer hatten daran ihren Anteil. Kurz vor Silvester bedankte sich die Geschäftsführung noch mit Kaffee und Kuchen bei ihnen. Immerhin hatten sie erstmals einen Marktanteil von 40 Prozent erreicht. Und dann das Aus. Einfach so.

Steinbrück und Rüttgers reagieren zu spät

Ute Beer erinnert sich an die Informationsveranstaltung am 15. Januar: »Der Weg zur Halle war bestens ausgeschildert. Sanitäter standen bereit. Und es war haufenweise Security vor Ort«, erzählt die 47-jährige Betriebsrätin. »In der Halle waren überall Bildschirme aufgestellt. Unser finnischer Oberboss war da. Und natürlich fehlten auch die Dolmetscherinnen nicht, um uns das Aus vom Finnischen ins Deutsche zu übersetzen.«
Ähnlich professionell gingen schon die Schließungen der Handy-Fabriken von BenQ und Motorola in Deutschland über die Bühne. In Westeuropa gibt es inzwischen grade noch zwei Produktionsstätten für mobile Telefone, eins von Sony-Ericsson in Lothringen und eins von Nokia im finnischen Salo.

Auch der ehemalige SPD-Ministerpräsident von NRW, Peer Steinbrück, reagierte auf den Fall Nokia im Nachhinein prompt und auf das höchste empört. Der heutige Finanzminister sprach vom »Karawanenkapitalismus« und meinte die Unsummen von Subventionen, die Nokia von NRW und vom Bund kassiert hatte. Seit 1988 produzieren die Finnen in Bochum Handys und Auto-zubehör wie Navigationssysteme oder Autotelefone. Zwischen 1995 und 1999 kassierte der Konzern mehr als 60 Millionen Euro an regionalen Fördermitteln vom Land Nordrhein-Westfalen und vom Bund. Hinzu kamen 28 Millionen Euro, die bis 2007 vom Bund als Forschungszuschüsse gewährt wurden. Ein Teil der Landesmittel war mit der Verpflichtung überwiesen worden, mindestens 3459 Arbeitsplätze in Bochum sicherzustellen. Doch das geschah nie. Schon im Jahr 2003 wurde die Landesregierung in NRW darüber informiert, dass Nokia weit weniger Arbeiter eingestellt hatte, als die Subventionsauflagen festlegten. Sanktionen der Regierung Steinbrück? Fehlanzeige! Stattdessen hat sie die Auflagen abgesenkt und den damaligen Gegebenheiten angepasst: Künftig hieß es in den Subventionsauflagen, Nokia müsse mindestens 2856 Mitarbeiter
einstellen. Steinbrück verzichtete damals sehenden Auges auf mehr als 600 Arbeitsplätze. Wer da heute schreit und von Karawanenkapitalismus spricht, gehört selbst »zu den Kamelen dieser Karawane« und hat entscheidend an dieser Subventionspolitik mitgewirkt, betont der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Oskar Lafontaine. Gemeinsam mit mehr als 15000 Menschen demonstrierten Oskar Lafontaine und weitere Mitglieder der Fraktion DIE LINKE am 22. Januar gegen die Schließungspläne und für den Erhalt der Arbeitsplätze im Bochumer Nokia-Werk. Peer Steinbrück kam weder zur Demo noch stellte er sich den Fragen der Angestellten zu den Versäumnissen seiner Regierungspolitik. Immerhin wurde selbst die abgeschwächte Subventionsauflage von 2856 Mitarbei-tern von Nokia nicht eingehalten. Auch darüber wurde die Regierung Steinbrück im Jahr 2005 informiert. Doch sie reagierte wieder nicht.
Als die Bindewirkung der Subventionsverpflichtung im September 2006 ablief, hätte die folgende CDU-Regierung Rüttgers handeln müssen. Doch auch sie tat nichts. Erst jetzt schreit sie auf und verlangt die Subventionen von Nokia zurück. »Die Politik hat sich dem Konzern lange willfährig unterworfen«, erklärt Herbert Schui, wirtschaftspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE. »Der Aktionismus von Steinbrück und Rüttgers kommt viel zu spät.«
Im Frühjahr 2007 gab Nokia bekannt, im rumänischen Jucu bei Cluj ein neues Werk zu bauen. »Schon damals haben wir uns sofort Sorgen um unseren Standort gemacht«, erklärt Ute Beer. »Als Betriebsrat haben wir immer wieder nachgefragt. Und es hieß, nein, Rumänien brauchen wir, um unsere Kapazitäten zu erweitern.« In Rumänien machen die Arbeitskosten nur ein Zehntel des deutschen Niveaus aus. Das ist der ausschlaggebende Grund für den finnischen Konzern.

Nokianer sind eine Familie

Seit 14 Jahren arbeitet Ute Beer inzwischen als Angelernte bei Nokia. Sie ist verheiratet, das Kind ist inzwischen erwachsen. Früher war sie Schuhfachverkäuferin. Die unterste Gehaltskategorie für angelernte Kolleginnen in der Produktion beträgt hier 1700 Euro brutto. Mit Leistungsprämien und anderen Zuschlägen kommt man im Schnitt auf 2300 Euro.
Viele angelernte Frauen waren früher Verkäuferinnen, Rechtsanwaltsgehilfinnen oder medizinisch-technische Assistentinnen. »Viele unserer Frauen sind alleinerziehende Mütter - um die vierzig und älter«, sagt Ute Beer. Die Kolleginnen und Kollegen sind auch in der Freizeit zusammen. Nokia ist wie ein Familienersatz für sie.
In kleinen Grüppchen stehen die Frauen in dicken Jacken vor dem Werkstor. Die Finger wärmen sie sich an Kaffeebechern. Seit sie wissen, dass ihr Werk Mitte des Jahres geschlossen und die Produktion aus Kostengründen nach Cluj in Rumänien verlagert werden soll, ist das Zelt vor dem Werkstor Mahnwache und Treffpunkt für alle - ganz getreu dem Nokianischen Werbespruch »Connecting People«. Die Fußballer vom VfL Bochum sind schon da gewesen und haben alle zum nächsten Heimspiel eingeladen, Kollegen aus den umliegenden Betrieben kamen, Musiker und Schauspieler aus Bochum und Umgebung. Solidarität ist in Bochum kein Fremdwort. Martina Blum ist überwältigt davon. Seit 1994 arbeitet die heute 50-Jährige beim Handyhersteller. Sie bestückt die »Brezeln« in der Produktionslinie mit Material. Und dieses Material liefern ihr die Kollegen von DHL. »Brezeln«, sagt Martina Blum und meint die hufeisenförmigen Arbeitsplätze, an denen pro Seite zwei Kolleginnen stehen und die Mobiltelefone zusammenstecken, scannen, wiegen und dann auf Paletten legen. Martina Blum fing im Werk an, da war sie alleinerziehend und hatte drei Kinder. Die Arbeit in drei Schichten kam ihr da gelegen. Und auch der Verdienst stimmte.
Heute sind die Kinder aus dem Haus. Und Martina Blum ist wütend: »Was haben wir nicht alles für Nokia getan«, schimpft sie, »unbezahlte Überstunden, auf Pausen verzichtet, Sonderschichten. Und dann so was.« Die Kolleginnen, die neben ihr stehen, nicken. Auch Marianne Hölter. Die 57-Jährige arbeitet selbst nicht im Handywerk, aber ihre Tochter. Und deshalb steht sie heute auch am Soli-Zelt. »Ich hab das vor 15 Jahren bei Blaupunkt erlebt«, erzählt die kleine stämmige Frau mit den knallroten Haaren. Heute ist sie umgeschulte Busfahrerin. »Bei Blaupunkt haben die uns aber zwei Jahre vor der Werkschließung schon erklärt, dass das Aus kommen wird«, erzählt sie.
»Nokia hat eben nicht erst angelegt und gezielt, sondern sofort scharf geschossen«, sagt Martina Blum. Und der Schuss hat erst mal gesessen. »Die erste Woche war am schlimmsten«, meint die 50-Jährige, »ich saß zu Hause und habe Löcher in die Luft gestarrt.« Inzwischen ist die erste Lähmung vorüber. Und die Hoffnung kommt zurück. Die Hoffnung, dass die Chefs in Finnland doch noch umgestimmt werden können, dass die heutige Wut nicht einfach verpufft, dass der Kampf um die eigenen Arbeitsplätze zum Erfolg führt. »Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sagt Martina Blum.

Das Aus belastet eine ganze Region

Nokia ist für Bochum, was BMW für München ist: einer der wichtigsten Arbeitgeber. Betroffen von einer Schließung wären mehr als 4000 Menschen. Im Bochumer Werk würden 2300 festangestellte Mitarbeiter ihre Arbeit verlieren. Hinzu kämen noch einmal 1000 Beschäftigte bei Zulieferern, darunter rund 200 Arbeiter der Post-Tochter DHL. Dass es Nokia ernst ist, hat der Konzern bereits bewiesen: Schon wenige Tage nach dem 15. Januar wurden die ersten von insgesamt 1000 Leiharbeiter entlassen.
Vor dem Werkstor steht eine rote Tonne, auf der in großen Lettern prangt: »Mach mit! Nokia verarsching people!« Einige Handys sind schon in der Tonne gelandet. Die gleiche Tonne steht auch im Foyer des Bochumer Schauspielhauses. Und auch dort haben Theaterbesucher schon ihre Telefone entsorgt. Die Nokianer setzen auf den Imageschaden. Und erste Umfragen geben ihnen da Recht. Denn laut einer forsa-Umfrage glauben immerhin mehr als zwei Drittel der Bundesbürger, das Ansehen der Marke Nokia habe durch die Entscheidung des Managements gelitten.
56 Prozent der Befragten wollen außerdem künftig kein Nokia-Handy mehr kaufen.
Subventionspolitik schärfer kontrollieren »Jetzt erst recht!«, prangt auf einem Spruchband, das gegenüber vom Soli-Zelt an einem Zaun befestigt ist. Vor dem Zelt flackert offenes Feuer in zwei alten Ölfässern. Ein alter Opel fährt vor. Etwas umständlich steigt ein älterer Mann aus, gebeugt beginnt er, Holz und Pappe aus seinem Kofferraum auszuladen. Dann füttert er damit das Feuer in den Öltonnen. Die Flammen schlagen hoch. Endlich wird es wieder warm. »Das ist mein Papa!«, erklärt eine junge Türkin stolz. »Der hat schon vier Stunden mit uns hier am Feuer gestanden. Er muss doch für seine Kinder bei Nokia protestieren.« Der kleine Mann lächelt stolz zu seiner Tochter hinüber, dann steigt er wieder in sein Auto und fährt davon.
Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Fraktion DIE LINKE, kommt aus Bochum. Seit dem 15. Januar besucht sie immer wieder die Nokianer am Werkstor, sorgt für Vernetzung, bereitet Aktionen mit vor. »Der Fall Nokia ist ein Paradebeispiel für primitivsten Raubtierkapitalismus, der sich für das Schicksal der Belegschaft nicht interessiert«, sagt sie. »Auf der Jagd nach dem letzten Prozent Gewinn werden Existenzen von tausenden Menschen vernichtet.«
Nokia geht es nicht schlecht. Anders als bei dem Handy-Hersteller BenQ-Siemens, der in die roten Zahlen geriet und daraufhin 2006 seine Standorte in Deutschland schloss, schreiben die Finnen kräftig schwarze Zahlen. Im Jahr 2007 steigerte der Konzern den Umsatz um 24 Prozent auf 51 Milliarden Euro. Die Gewinne nach Steuer stiegen um 67 Prozent auf 7,2 Milliarden Euro. Gisela Achenbach, die Bochumer Betriebsratsvorsitzende, reagierte empört, als ihr diese Bilanz zu Ohren kam: »7,2 Milliarden Reinerlös - damit könnten die über 100 Jahre unsere Lohnkosten zahlen!«

Jeder Mitarbeiter schuf 90000 Euro Gewinn

Nach einem Bericht des Wirtschaftsmagazins »Capital« erzielte der Standort 2007 ein Betriebsergebnis vor Zinsen von 134 Millionen Euro. Damit erwirtschaftete jeder der 1500 Mitarbeiter in der Produktion einen Gewinn von 90000 Euro. »Können die Herren in Finnland ihren Hals nicht voll kriegen?«, fragt sich da Herbert Schui. Zumal das Ergebnis von Nokia Bochum sogar noch hätte verbessert werden können. Nach einem internen »Memorandum« über die »betriebliche Restrukturierung der Nokia GmbH« hätte man mit Investitionen in Höhe von 14 Millionen Euro das Bochumer Werk so effizient und lukrativ machen können, wie eine Nokia-Fabrik in Ungarn.
Ute Beer, die Betriebsrätin, ärgert sich maßlos darüber, dass der Multikonzern erst Millionen an Subventionen kassiert hat und nun seine Mitarbeiter entsorgt. »Dank der Politik muss ich arbeiten, bis ich 67 bin, dank der Globalisierung verlieren wir alle 5 bis 15 Jahre unseren Arbeitsplatz«, schimpft sie. Wenn’s schlecht läuft, sieht ihr Zukunftsszenario so aus: »Wir kriegen eine Abfindung, sind arbeitslos und dann geht das Tor zu Hartz IV auf.« Und sie fügt hinzu: »Für mich ist es ein Alptraum, als Frau nicht mehr finanziell unabhängig zu sein.«
»Die Industriepolitik der EU ist völlig falsch«, kritisiert Schui angesichts solcher Fakten. »Denn die Europäische Union subventioniert die Verlagerung der Produktion in EU-Billiglohnländer. Und damit fördert sie die Konkurrenz um den niedrigsten Lohn.« Der linke Politiker und Wirtschaftswissenschaftler fordert stattdessen eine Industriepolitik, die die Produktion innerhalb der EU erhöht. Angesichts von 88 Millionen Euro Subventionen für Nokia findet Schui, der Staat dürfe Subventionen künftig nicht mehr vergeben, ohne selbst davon zu profitieren: »Subventionen dürfen nur noch als öffentliche Beteiligungen gewährt werden, sodass der Staat anschließend Einfluss auf die Geschäftspolitik des subventionierten Unternehmens hat.«
Die Wände des Soli-Zelts der Nokianer sind mit Solidaritätsschreiben geschmückt.
Da grüßt die neue Linke aus Rumänien.
Ein 73-jähriger Senior von ver.di schreibt: »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.«

Ute Beer, die Betriebsrätin, kann da nur beipflichten. »Mein Ding ist der Kampf«, sagt die 47-Jährige bestimmt, »auch wenn es nur ein Prozent Hoffnung gibt.« Unlängst hat sie ihren Betriebsausweis verloren, mit dem sie als Nokianerin das Werk betreten darf. Jetzt wurde ihr ein neuer ausgestellt. Die resolute Frau mit dem blonden Haarschopf zeigt ihn hervor und grinst: »Der ist gültig bis 2011. So lange will ich mich hier mindestens noch festbeißen!«