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Vom Reden über Chancen

erschienen in Clara, Ausgabe 6,

Neue soziale Ideen setzen auf Reformen des Sozialstaates und Solidarität in

einer globalen Welt. Das sind Anforderungen an die Politik.

Ende Oktober erblickte die Studie »Kinder in Deutschland 2007« das Licht der Öffentlichkeit. Sie zeichnete einerseits ein Bild von einer mehrheitlich doch eher guten Kindheit in Deutschland - andererseits bestätigte sie zentrale soziale Probleme dieses Landes. Und sie rückte auch manches klar: Wenn Kinder bei beiden Elternteilen aufwachsen, dann empfinden 17 Prozent einen Mangel an Zuwendung, falls Vater und Mutter berufstätig sind - viel mehr aber, nämlich 28 Prozent, sehen sich vernachlässigt, wo die Eltern arbeitslos oder aus sonstigen Gründen nicht erwerbstätig sind.

Was als Versagen von Familien erscheint, ist allerdings ein gesellschaftliches Problem. Gar nicht mal so sehr deswegen, weil »wir« diese Kinder brauchen, weil »wir« es uns nicht leisten können oder wollen, auch nur ein Talent verkommen zu lassen. Die Bundeskanzlerin sprach Ende Oktober auf der BDI-Mittelstandskonferenz von »gut ausgebildete(n) junge(n) Leute(n) …, die wir dringendst brauchen.« Ja, bitte - wer ist »wir«? Und wozu brauchen »wir« diese jungen Leute? Damit sie für »uns«, die Älteren, die Renten bezahlen? Die längere Zahlung des ALG I? Damit sie in »unseren« Betrieben als »engagierte und findige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer« - so Angela Merkel beim BDI - dafür sorgen, dass der Rubel rollt? Damit sie »uns«, dem Staat, ordentlich Steuern zahlen - wenn wir schon die Unternehmen weniger zur Kasse bitten? Was eigentlich tun »wir« - die Älteren, die Wirtschaft, der Staat - für diese Jüngeren? Für ihre Chancen, für die dazugehörigen Bedingungen, gegen ihre Lebensrisiken?

Was macht das Leben lebenswert?

Was ist es uns wert, dass die Jungen ein gutes, selbstbestimmtes, perspektivreiches Leben führen - nach den Maßstäben ihrer, nicht unserer Lebenszeit? Stehen wir noch zu dem alten Wunsch aller Elterngenerationen, die Kinder sollten es einmal besser haben? Oder geht es »uns« vor allem um den eigenen Wohlstand - und brauchen »wir« dafür leistungsfähige nachrückende Generationen?
Das scheinbare Versagen von Familien, die schon früh von Kindern selbst empfundene Chancenlosigkeit können aber nicht allein durch Schule und Freizeitanreize kompensiert und in diesem Sinne als gesellschaftliches Problem bearbeitet werden, wie in der ersten Diskussion zur Kinderstudie angemahnt wurde. Nein, es handelt sich um ein gesellschaftliches Problem, weil die Gesellschaft einen großen Anteil daran hat, dass die Eltern erst in eine solche Lage gekommen sind, in der sie ihren Kindern keine Impulse geben können, keine Motivation bieten, keinen erfüllten Lebensweg vorleben können: eine Wirtschaft, die »überflüssige« Menschen produziert. Eine Politik und ein gesellschaftlicher Konsens, die diese Menschen auf niedrigstem Niveau überleben, aber nicht wirklich leben lassen. Ein Bildungssystem, das die soziale Segregation lediglich abbildet, aber nicht aufbricht.

Aber es sind nicht nur abstrakte Verhältnisse und Strukturen, die anzuprangern und zu überwinden sind. Wir müssen uns schon auch an die eigene Nase fassen: Wenn wir nach außen hin fordern, die Schule müsse bei allen Kindern häusliche Defizite kompensieren, und zugleich heimlich froh sind, dass die eigenen Kinder im gegliederten Schulsystem frühzeitig von den Schwachen, den Benachteiligten, den Schwerfälligen und auch den Aggressiven getrennt werden. Wenn wir der Behauptung nicht widersprechen, auch mit Hartz IV oder vergleichbaren Löhnen könne man Kinder vernünftig aufziehen oder langzeitarbeitslose Eltern müssten sich nur einen Ruck geben, um ihren Kindern positive Lebensimpulse zu vermitteln. Oder auch dann, wenn wir meinen, mit ein bisschen mehr Hartz-IV-Geld wäre die Welt eine andere.

Die Gesellschaft hat
großen Anteil, wenn
Eltern versagen

Nein, so wird es nicht sein und so wird es nicht gehen. 2005 ist die sich formierende neue Linke für eine neue soziale Idee in den Bundestagswahlkampf gezogen. Zwei Jahre später prägen ihre zentralen politischen Forderungen - Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, Herabsetzung des Renteneintrittsalters, Rückführung von Hartz IV und Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan - das politische Leben und die Auseinandersetzungen in der Koalition; eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung teilt diese Positionen.

Das ist viel - aber bei weitem noch nicht alles. Eine neue soziale Idee wird mehr sein als vier Einzelforderungen, von denen drei auf die Wiederherstellung eines früheren Zustandes zielen. Eine neue soziale Idee setzt darauf, dass eine neue Sozialstaatlichkeit, dass eine Rekonstruktion von Solidarität und der Weg zu sozialer Sicherheit unter veränderten Bedingungen möglich sind. Das ist eine Anforderung an die Politik - und zugleich an die Selbstverände-rung der Gesellschaft. Der europäische Sozialstaat ist auch vor 120 Jahren nur dem Anschein nach »von oben« eingeführt worden. In Wahrheit institutionalisierte er, was er vorfand: Formen von Selbstorganisation und Solidarität der da »unten«, unternehmensinterne Wohlfahrtsregeln für Alte und Sicherungssysteme gegen Krankheit, klassische Mildtätigkeit und Ergebnisse von Klassenkämpfen ebenso wie die Aushandlungsprozesse von »Kapital und Arbeit«. Und er verband dies mit Garantien und Zuschüssen des Nationalstaates. Für die Reorganisation des Sozialstaates reicht es deswegen auch heute nicht aus, nur auf den Staat, auf seine Gesetze und sein Geld, zu schauen. Politik, die dies erkannt hat, wird sich nicht zuerst auf die Verwaltung der Missstände und die Durchsetzung entsprechender Maßnahmen konzentrieren, sondern alles dafür tun, die kreativen, innovativen Kräfte in der Gesellschaft freizusetzen.

Aber wo sind, wo formieren sich diese neuen kreativen, innovativen Kräfte - als Akteure einer neuen sozialen Verantwortung? Wo sind Wissenschaftler wie jene Ärzte, die in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts sich der gesundheitlichen, hygienischen und sexuellen Aufklärung der aufstrebenden Unterschichten widmeten? Wo die Künstler, die ihr Schaffen in deren Dienst stellen? Wo die Architekten und Städteplaner, die kühne Visionen für humane Siedlungen, zweckmäßige Wohnungen und hilfreiches Design entwickeln? Wo die Manager und Firmeneigner, die wissen und beherzigen, dass Unternehmertum mehr ist als Kapitalist sein? Wo ist der Konsens in der Gesellschaft, der besagt, dass diejenigen, die derzeit Opfer der Umbruchprozesse sind, mehr brauchen und verdienen als halbwegs annehmbares Essen und Wohnen: nämlich Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und Beherrschung von Kulturtechniken, soziale Kompetenz und Mobilität, Beteiligung am Fortgang der Wissensgesellschaft.

Innovative Kräfte in der Gesellschaft freisetzen

Wo ist der Aufbruch derjenigen, die immer noch stark gegen die Risiken abgeschirmt sind - durch Tarifkartelle, durch Regeln des öffentlichen Dienstes, durch das Beamtentum, durch starke Lobbys, durch Eigentum und Vermögen? Wann endet deren verzagte Forderung nach Sicherung des eigenen Standards und nach auskömmlicher Alimentierung und wann schlägt sie um in die universelle Überzeugung, dass für jede und jeden dem Auf
und Ab in Wirtschaft und individuellem Leben immer wieder auch ein Auf folgen muss - und dass dies nicht allein den persönlichen Anstrengungen und Glücksumständen überlassen sein kann? Die neue LINKE als gesellschaftliche Kraft kann und muss hier noch viel bewegen.