Zum Hauptinhalt springen

Unterwegs in der Sperrzone

erschienen in Clara, Ausgabe 23,

Ein Jahr nach der Katastrophe von Fukushima hat sich die Abgeordnete
Dorothée Menzner auf den Weg in die verstrahlten Regionen von Japan gemacht.
Ein Gespräch über dramatische Entdeckungen in der Sperrzone und eine noch
immer nicht beendete Katastrophe.

Auf Ihrer Japan-Reise haben Sie
 an einer Demo der Anti-AKW-Bewegung teilgenommen. Sie haben Aktivisten schon im vergangenen Jahr getroffen. Wie hat sich die Bewegung entwickelt?

Dorothée Menzner: Sie ist viel größer geworden. Auf der Demo in Tokio waren Anfang Februar Zehntausende unterwegs. Noch vor einem Jahr völlig undenkbar. 

Welche gesellschaftlichen
 Gruppen tragen die Bewegung? 

Vor allem Frauen und Mütter. Sie haben es sogar geschafft, Prominente, Schriftsteller und Künstler in die Bewegung zu integrieren. Das ist in Japan ein gar nicht so leichtes Unterfangen, denn für diese Menschen ist ein Engagement mit drastischen ökonomischen Folgen verbunden. Sie bekommen dann kaum noch Aufträge und Auftritte. Wer sich öffentlich gegen Atomkraft stellt, riskiert etwas.

Warum?

Weil die Atomkonzerne mit den Massenmedien eng verwoben sind. Sie sind die größten Geldgeber, und somit ist ihr Arm ein langer. Prominente, die die Atomenergie kritisieren, finden in den Medien nicht mehr statt. Von einer kritischen Berichterstattung in den großen Medien ganz zu schweigen.

Nicht einmal nach solch 
einer Katastrophe?

Von kleinen Zeitungen und Sendern
mal abgesehen – nein. Nur ein Beispiel:
Ein Informant vor Ort gab uns den Hinweis, dass einer der Atomkonzerne eine Pressekonferenz veranstalten würde. Wir gingen einfach hin. Dort hat kein einziger japa-nischer Journalist eine kritische Frage gestellt. Sie wiesen uns sogar darauf hin,
das tunlichst zu unterlassen. Wir fragten dennoch kritisch. Und: Der PR-Chef des Konzerns versuchte noch tagelang, bei
uns herauszufinden, welcher japanische Journalist uns den Tipp gegeben hatte.

Hört sich ein bisschen wie Russland unter Putin an, aber nicht nach Japan.

Um den kritischen Journalismus ist es
auch in Japan nicht gut bestellt – auch um die Demokratie nicht. Mehr als 80 Prozent der Japanerinnen und Japaner wünschen den schnellen Ausstieg aus der Atom-energie. Aber darum schert sich die Regierung nicht. Sie steckt mit den Konzernen unter einer Decke, schützt
ihre Interessen und erzählt den Menschen das Märchen, ein Ausstieg sei nicht möglich, weil die Stromversorgung zusammenbrechen würde.

Das hat die deutsche Regierung vor einem Jahr auch erzählt … 

… so wie in Deutschland hat sich dies auch in Japan als glatte Lüge erwiesen. Derzeit sind dort gerade mal zwei Kernreaktoren
von 54 in Betrieb, und es gibt keine nennenswerten Engpässe in der Stromversorgung.

Wie ist es eigentlich um den zerstörten Reaktorblock von Fukushima bestellt?

Das Abklingbecken im Block IV von
Fukushima ist eine tickende Zeitbombe.
Es ist so stark beschädigt, dass es bei einem weiteren Erdbeben kollabieren könnte. Japan gehört zu einer der erdbebenaktivsten Regionen. Sollte dieser Fall eintreten, müsste der Großraum Tokio evakuiert werden. 30 Millionen Menschen! Wie das gehen soll, weiß in Japan augenscheinlich niemand, und auch woanders gibt es zu solch einem Unterfangen keine Erfahrungen.

Die Region von Fukushima haben in
 den letzten Monaten Zehntausende Menschen verlassen. Sie selbst waren dort. Wie ist die Lage? 

Ich habe Fukushima-Stadt besucht, die nahe der Sperrzone liegt. Es ist eine sterbende Stadt. Vor der Katastrophe lebten dort noch zwei Millionen Menschen, jetzt verlassene Straßenzüge überall. Geblieben sind vor allem jene, die sich einen Umzug nicht leisten konnten.

Und was weiß man über die Sperrzone?

Nicht viel. Aber: Ein Filmteam hat mich die ganze Zeit auf der Reise begleitet. Ihnen gelang es, in die Sperrzone von Fukushima zu kommen. Sie filmten die Tsunami-
Zerstörungen, nahmen Messungen vor und entdeckten etwas Dramatisches: Sie fanden die Spuren von ersten Rekonstruktionsarbeiten an zahlreichen Häusern. Die Menschen haben ganz offensichtlich nach der Kata-strophe angefangen, ihre Häuser wieder aufzubauen – bevor sie endgültig weg-mussten. Die Behörden haben das trotz
der Verseuchung viel zu lange zugelassen.

Ziemlich gefährlich,
die Sperrzone zu betreten, oder?

Ganz so einfach ist die Sache nicht. Strahlung verbreitet sich nicht so, wie die kreisförmig angelegte Sperrzone vermitteln könnte, sondern hängt von vielen Faktoren ab. Die Strahlenwerte, die das Filmteam in den südlichen Bereichen der Sperrzone gemessen hat, sind beispielsweise niedriger als in der nicht gesperrten Stadt Fukushima.

Geigerzähler waren auf dieser Reise 
also ständige Begleiter. Wie hoch
 waren die Werte in Fukushima-Stadt?

Die Werte sind nicht konstant, sondern schwanken. Bei böigem Wind aus Richtung Sperrzone haben sich die Werte sofort verändert, der Wind hat den Nachschub an Strahlung in die Stadt geblasen. Der höchste von uns gemessene Wert betrug 0,71 Mikrosievert pro Stunde.

Was bedeutet so ein Wert?
 Hieße das in Deutschland:
 Alle weg – so schnell wie möglich?

Ja. In Japan gelten aber andere Grenzwerte. Für Kinder beispielsweise Grenzwerte, die jenen für Mitarbeiter in AKWs in Deutschland entsprechen. Aber Grenzwerte sind auch nur von Menschen gemacht. Beispielsweise ist der Standard für Erwachsene für jene, die in guter gesundheitlicher Verfassung sind – an alten oder kranken Menschen gehen diese Grenzwerte völlig vorbei. Bei der von uns in Fukushima-Stadt gemessenen Strahlung stirbt man zwar nicht, wenn man sich einige Tage oder Wochen solchen Werten aussetzt, Langzeitfolgen sind jedoch zu erwarten.

Wie haben Sie sich persönlich gefühlt?

Es ist komisch und man hat Angst. In Fukushima-Stadt habe ich versucht,
so wenig wie möglich draußen zu sein. Einmal war ich zwei Stunden auf den Straßen unterwegs, und mein Dosimeter
ging richtig hoch. Sofort suchte ich Schutz
in einem Haus. Wovor man sich aber gar nicht schützen kann, das ist das Essen.
Man weiß nicht, wo der Reis, das Gemüse und der Fisch herkommen. Das Verfahren, um die dort enthaltene Strahlung zu messen, ist kompliziert.

Sie haben das Problem der Grenzwerte und der Langzeitschädigungen 
angesprochen. Was lässt sich für die Region Fukushima sagen?

Dass Krebserkrankungen und Missbildungen bei Kindern zunehmen werden. Was Letzteres betrifft, das werden schon die nächsten Monate zeigen. Dann kommen jene Kinder auf die Welt, die nach der Katastrophe gezeugt wurden. Aber all das Erfahrungswissen zu bisherigen Katastrophen zeigt auch, es geht nicht nur um Regionen in der Nähe des Reaktors.

Sondern?

Wir haben in Japan einen Experten ge-troffen, dessen Worte ich nicht vergessen werde: den 96-jährigen Arzt Hida, der die Opfer
 des Atombombenabwurfs auf Hiroshima versorgte und zudem über die Folgen des Atomunfalls in Harrisburg im März 1979 forschte. Aus medizinischer Sicht hält er es eigentlich für notwendig, für einen gewissen Zeitraum ganz Japan zu evakuieren. Denn auch niedrige Strahlung schädigt, und es gibt gesundheitliche Folgen, die sich nicht in sofortigem Tod, Krebs oder Missbildungen bei Kindern ausdrücken.

Was passiert eigentlich mit dem
verstrahlten Müll in Japan?

Wohin mit all den verstrahlten Abfällen aus der Region Fukushima – das weiß niemand. Ursprünglich sollte der Müll gleichmäßig
auf alle Regionen verteilt und verbrannt werden. Damit hatte man angefangen und die Strahlenlast im gesamten Land weiter erhöht. Dies wurde nun gestoppt und eine Endlagerdiskussion begonnen. Ich wurde auch oft gefragt: Wie macht ihr das in Deutschland? 

Und was haben Sie erzählt?

Dass wir das gleiche Problem haben wie 
die Japaner: Wohin mit dem ganzen Atommüll – das weiß derzeit noch keiner.
 

Dorothée Menzner ist energiepolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE