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Skandinavischer Wohlfahrtsstaat

erschienen in Clara, Ausgabe 2,

Die Erfahrungen Skandinaviens bestätigen die grundlegenden politischen Positionen der Fraktion DIE LINKE. In ihrer Analyse beweist Dr. Cornelia Heintze, dass ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat nicht nur mit einer globalisierten Wirtschaft vereinbar ist, sondern geradezu Erfolgsvoraussetzung.

Zwei Basislektionen gegen falsche Vereinnahmung Die skandinavischen Länder sind erfolgreich. Von A wie Armutsvermeidung über G wie Gesundheit bis zu W wie Wirtschaftswachstum, kein Bereich, wo wir skandinavische Länder nicht unter den Besten finden. Das hat sich herumgesprochen. Getreu dem Spruch »Links blinken und rechts abbiegen« wird nun der Blinker Richtung Skandinavien gestellt.

Auch bei deutschen Ökonomen. Befragt, welches Land für Deutschland Vorbild sein könnte, entschied sich bei einer Ökonomen-Umfrage vom Frühjahr 20061 die Mehrheit der 551 befragten Ökonomen für ein skandinavisches Land und nur gut_5 Prozent für die USA. Naiv, wer Einsicht vermutet. Beispiel: Obwohl Gewerkschaften in allen skandinavischen Ländern viel mehr Einfluss haben als in Deutschland - der Organisationsgrad liegt 3 bis 4fach so hoch - wird weiter die alte Leier von der Gewerkschaftsmacht, die es einzuschränken gilt, vorgetragen. Auch die deutsche Politik ist von skandinavischen Konzepten weit entfernt. Übernommen werden Überschriften und aus dem Kontext gerissene Einzelbausteine. Das fing bei den Hartz-Reformen an. Angeblich ist die ›Reform‹ von der skandinavischen Erfolgsgeschichte des ›Fördern und Forderns‹ inspiriert. In der deutschen Praxis angekommen ist nur das ›Fordern‹. In Dänemark als vermeintlichem Vorbild sichert die Wirtschafts-, Gesellschafts- und Finanzpolitik, dass es genügend Vollzeitarbeitsplätze gibt. Aktive Arbeitsmarktpolitik baut darauf auf, nicht umgekehrt. Im Mittelpunkt des Förderns steht eine umfangreiche, auf Persönlichkeitsentwicklung gerichtete Beratung bei guter finanzieller Absicherung. Das Fordern folgt zeitversetzt. Theoretisch reicht es bis zum Arbeitszwang, was aber in der Praxis ohne Relevanz ist. Es gibt kaum einen Arbeitslosen, der die rechtliche Möglichkeit, Arbeitslosengeld für 4 Jahre zu beziehen, ausschöpft resp. ausschöpfen muss.

Am ehesten kann beim Elterngeld, das zum 1. Januar 2007 eingeführt wird, ein gewisses Lernen von skandinavischen Erfahrungen konzediert werden. Aber auch hier: Das Gegenstück fehlt. Von Dänemark bis Norwegen besteht ein Rechtsanspruch auf öffentliche Betreuung ab Geburt oder ab dem 1. Lebensjahr. Für Eltern schafft dies Planungssicherheit. Endet der auf Mama- und Papamonate verteilte Elternurlaub, ist für eine qualitativ gute Ganztagsbetreuung des Nachwuchses gesorgt. Dass diese Sicherheit die Entscheidung für Kinder erleichtert, zeigen die vergleichsweise hohen skandinavischen Geburtenzahlen. Dagegen Deutschland: Ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagskrippenplatz nach dem Ende des Elternurlaubs ist nicht in Sicht. Von Qualitätsstandards wie in Skandinavien ganz zu schweigen. Derzeit besuchen bundesweit nur 10 Prozent der Kleinkinder eine Krippe, verglichen mit 60 Prozent in Dänemark. Ein politischer Wille, quantitativ und qualitativ schnell nachzuziehen, existiert nicht. Stattdessen übt sich die Politik darin, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Siehe die Debatte um Beitragsfreiheit für den Kindergartenbesuch, zumindest das letzte Kindergartenjahr. Wer vom skandinavischen Modell wirklich lernen will, kommt um zwei Basislektionen nicht herum. Die erste Lektion betrifft die Ziele und Prinzipien, auf denen der dortige Wohlfahrtsstaat gründet. Die zweite Lektion betrifft das an strategischen Zielen orientierte Ineinandergreifen von Politiken und die dabei präferierten Instrumente.

Präventiv, individuell, universell

Der deutsche Sozialstaat basiert auf der traditionellen Familie mit männlichem Haushaltsvorstand (Haupternährer). Er gewährt Rechte weder universell noch individuell, sondern immer mit Blick auf den Status des Haushaltsvorstands. Dieses Grundprinzip prägt das Steuerrecht (Ehegatten-Splitting oder zukünftig Familien-Splitting), das Unterhaltsrecht (wechselseitige Unterhaltsansprüche erwachsener Familienmitglieder), die Sozialversicherungen (kostenlose Mitversicherung nicht erwerbstätiger Ehefrauen in der GKV) bis hin zur Gewährung von Leistungen je nach Einkommen/Vermögen der Eltern oder erwachsenen Kinder.

Alle skandinavischen Länder basieren umgekehrt auf einer Individualisierung von Rechten, aber auch Pflichten. So gibt es kein Ehegattensplitting und keine Unterhaltsansprüche erwachsener Familienmitglieder untereinander. Auch antiquierte Verkomplizierungen des Steuerrechts durch 5 verschiedene Steuerklassen je nach Familienstand wie in Deutschland existieren nicht. Rechte gelten ab Geburt. Kinder haben ein Recht auf Erziehung und Bildung, auf das kostenlose Mittagessen in der Schule, auf Studiengeld unabhängig vom Einkommen der Eltern (Schweden: rd. 750 Euro mtl.), auf zwei Jahre beratende Begleitung bei Jugendarbeitslosigkeit (Dänemark), auf Familienfürsorge, wenn sie Eltern werden usw. Rechte und Pflichten folgen dem Lebenslauf von Individuen. Für den Familienstatus und den individuellen Lebensentwurf interessiert sich der Staat wenig. Sein übergreifendes Ziel ist es, mit Blick auf Vollbeschäftigung die Potentiale der gesamten Bevölkerung breit zur Entwicklung zu bringen, indem Menschen mit unterschiedlichem familiären Hintergrund institutionell gesichert gleiche Chancen erhalten. Staat und BürgerInnen sind Partner, wobei das schichtenübergreifend gemeinsame Spielen und Lernen in Krippe, Kindergarten und Hort helfen soll, den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft auch zukünftig zu gewährleisten. Dies im Rahmen eines Geschlechterregimes, das die ökonomische Selbstständigkeit von Frauen unabhängig von Familie gewährleistet. Zwar, die angestrebte Geschlechterbalance ist noch lange nicht erreicht. Trotzdem: Beim ›Global Gender Gap Index‹ belegen die skandinavischen Länder unter 58 Ländern die ersten fünf Plätze (World Economic Forum 2005: S. 8f.)

Konträr dazu der deutsche Sozialstaat: Ihm geht es nicht um »Wohlfahrt für alle«, sondern um »Sozialschutz für sozial Schwache« in einer noch stark ständisch (vgl. das Bildungssystem) geprägten Gesellschaft. Dies nach dem Prinzip der Subsidiarität. »Familie kommt vor Staat«, »Privat kommt vor Staat« lauten die ordnungspolitischen Formeln, die sich bis ins Gemeindewirtschaftsrecht erstrecken. Gedacht wird weder partnerschaftlich noch präventiv, sondern kompensatorisch und nachsorgend. Die jüngste Debatte um den Aufbau eines Frühwarnsystems (incl. verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen) zum Schutz von Kindern vor Misshandlung und Verwahrlosung folgt diesen Denkprinzipien. In Dänemark kam die Familienhebamme des Jugendamtes auch zum Nachwuchs des Thronfolgerpaares. Staatliche Fürsorge zu akzeptieren, fällt da leicht. Schließlich, es fühlt sich niemand als unfähig oder sozial schwach stigmatisiert, wenn eine breite Mehrheit in das Familienfürsorgesystem eingebunden ist.

Meine These: der deutsche Sozialstaat droht ohne einen grundlegenden Paradigmenwechsel schleichend gerade vor seinem Hauptziel, Sozialschutz für sozial Schwache zu gewähren, zu kapitulieren. Dann folgt »blame the victim«. Im Konzept vom »aktivierendem Staat« ist dies bereits angelegt.

Öffentliche Dienste und Transfers greifen ineinander: Der Leistungsstaat lebt

Im Staatshandeln der skandinavischen Länder spielen Steuersubventionen eine viel geringere Rolle als in Deutschland. Der Instrumentenmix entspricht dem, was der deutsche Finanzwissenschaftler A. Wagner im Blick hatte, als er (1911) einen Wohlfahrtsstaat skizzierte, bei dem indirekte Transferleistungen und die direkte Bereitstellung von Staatseinrichtungen zur unmittelbaren Nutzung durch die Bevölkerung gleichberechtigt nebeneinander stehen. Der Staat nach dieser Konzeption ist nicht nur für die Gestaltung von Rahmenbedingungen zuständig; seine Interventionen sind auch nicht auf die Instrumente Recht und Geld beschränkt, sondern er ist bei öffentlichen Gütern (Erziehung, Bildung, Gesundheit…) selbst Produzent.

Staat als wirtschaftlicher Akteur und Arbeitgeber - dies kommt im Denken der deutschen Politik kaum mehr vor. Unter neoliberaler Ägide machte ein Staatskonzept Karriere, bei dem der Staat nicht selbst leistet, sondern nur noch gewährleistet und für die Rahmensetzung zuständig ist. Im europäischen Vergleich mutet dies befremdlich an, gibt es doch selbst in Großbritannien einen größeren Staatssektor. Im skandinavischen Durchschnitt ist aktuell (2005) ein knappes Drittel der Arbeitnehmer im Staatssektor beschäftigt (Deutschland 2005: 11,9 Prozent). Da die Beschäftigungsquoten aber deutlich höher sind als in Deutschland, wird die Kluft erst dann richtig sichtbar, wenn man sogenannte Dichteziffern betrachtet. Nach meinen Berechnungen kamen in Dänemark 2005 auf 1000 Einwohner 172 Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor gegenüber nur 56 Arbeitsplätzen in Deutschland. Mit den neuerlichen Überlegungen für einen öffentlich geförderten zweiten und dritten Arbeitsmarkt oder eine Tätigkeitsgesellschaft, wo ordentliche Bezahlung durch Anerkennung plus Aufwandsentschädigung ersetzt wird, hat das wenig zu tun. Auch nicht mit klassisch-bürokratischer Tätigkeit. Der skandinavische Staatssektor ist effizient. Er bietet reguläre, überwiegend hochprofessionelle Beschäftigung; die Teilquote beträgt in Dänemark nur 10,5 Prozent (Deutschland 29,5 Prozent). Die im Kastenzitat erwähnte Krankenschwester verfügt wie die meisten Gesundheits-, Kranken- und Altenpfleger-Innen vermutlich über eine akademische Ausbildung. Nicht Flexicurity ist das skandinavische Betriebsgeheimnis. Ein wesentlicher Erklärungsschlüssel für die weltweit höchsten Beschäftigungsquoten mit gegenwärtig in Dänemark, Norwegen und Island annähernder Vollbeschäftigung liegt in der Überführung von traditionell in Familien unentgeltlich erbrachten Leistungen in das Erwerbssystems. Von wegen nur nützlich, aber nicht bezahlbar. Viele staatliche Leistungen schaffen erst die Basis für innovative Wirtschaftsprozesse. So bei der finnischen Musikbranche, die in den letzten Jahren um ein Drittel wuchs. Dies gründet nicht auf einer überragenden Musiktradition. Deutschland besitzt eine solche, pflegt sie aus Kurzsichtigkeit aber kaum. Den Grund für Finnlands Musikboom von Pop bis Oper ortet Paulina Akokas, leitende Managerin des Musikverbandes MUSEK, im Aufbau einer flächendeckenden Musikerziehung. Zur Vermarktung öffentlicher Güter und der auch in Deutschland betriebenen Neo-Feudalisierung durch die Umverteilung von unten nach oben in der Hoffnung, gut gestellte Haushalte würden dann vermehrt niedrig entlohnte Arbeitsplätze für Dienstboten aller Art schaffen, bietet Skandinavien die Alternative. Ein Generalschlüssel zum Verständnis des skandinavischen Modells wird damit allerdings noch nicht geliefert. Weitere Säulen kommen hinzu. Die Stichworte lauten: solidarische Lohnpolitik, gute soziale Absicherung mit anderer Finanzierung als in Deutschland (teils steuerfinanziert, teils finanziert über Einwohnerversicherungen), integrativ-ganzheitliche Politikgestaltung. Zur solidarischen Lohnpolitik: Gemeint ist damit nicht nur klassisch, dass der Verteilungsspielraum (Produktivität plus Inflation) ausgeschöpft wird; eingeschlossen ist das Bestreben, die Spanne zwischen niedrigsten und höchsten Gehältern nicht zu groß werden zu lassen. Und wie funktioniert integrativ-ganzheitliche Politikgestaltung? Zum Beispiel dadurch, dass die kommunalen finnischen Gesundheitszentren nicht nur sowohl ambulante wie leichtere stationäre Leistungen erbringen, sondern allerhand Beratungsleistungen bieten, Labore unterhalten, Familienfürsorge betreiben. Nicht, dass dergleichen in Deutschland nicht möglich wäre, aber die Beispiele sind rar. Statt integrativer Leistungen dominiert Spartendenken: hier ambulant, dort stationär, hier Jugendamt, dort Gesundheitsamt. Ursache sind zersplitterte Strukturen, die je ihrer Eigenlogik folgen.

Wir müssen uns an die Globalisierung anpassen, wird in Deutschland gedacht. Dagegen: Mit seinen universellen, nicht statusgebundenen Leistungen trotzt der skandinavische Wohlfahrtsstaat der Globalisierung recht erfolgreich. Wesentlich dafür ist das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit in die effektive, effiziente und bürgerfreundliche Leistungserstellung in Schlüsselbereichen wie Erziehung, Bildung, Gesundheit. Für die Bereitschaft, die hohe Staatsquote durch sehr hohe Steuern und Abgaben solide zu finanzieren, liefert dies das Fundament.

Dr. Cornelia Heintze studierte an der FU Berlin Politikwissenschaft. Sie promovierte mit Schwerpunkten in den Bereichen Bildungsökonomie, Finanz- und Kommunalwissenschaften. Neben verschiedenen Tätigkeiten als Referentin war sie als Stadtkämmerin in Delmenhorst tätig. Seit 1999 ist sie freiberuflich als Beraterin, Referentin und Autorin tätig.